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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Sein erster Gedanke war: jetzt ist Hilde allein – und er zögerte in der Hoffnung, daß Meister Lukas, ohne ihn zu sehen, vorüber gehen und ihm so das Feld frei lassen werde. Da blickte der alte Mann in die Höhe und ein eigner, bekümmerter Blick haftete auf dem jungen Mann, der sich nicht enthalten konnte, den schlichten Greis mit einer Art Ehrfurcht zu grüßen.

Meister Lukas erwiderte den Gruß. „Nun, wie steht es, Meister Lukas? ist Alles bei Euch wohlauf?“ zwang sich Georg leichthin zu fragen, da er nun doch nicht wohl ohne Wort vorüber konnte. Sofort aber bannte ihn die Geberde des Alten an die Stelle, auf der er stand. Der Weber hatte langsam den Kopf geschüttelt und sagte: „Nein, Herr – bei mir ist die Sorge eingekehrt, denn meine Tochter Hilde liegt krank. Mir ist nicht anders, wie einem müden, schwachen Mann, dem der Stab, darauf er sich stützte, aus den Händen gewunden worden. Nun, Gottes Wille muß an ihr gescheheu ...“

Damit ging er langsam weiter, und Georg blieb wie ein Träumender steheu. Warum hielt er den Alten nicht fest, damit er ihm ferner Red’ und Antwort stehe ... welcher Art Hildens Erkrankung sei, ob, was Gott verhüten wolle, Gefahr vorhanden ... ob für guten ärztlichen Beistand und erfahrene Pflege gesorgt worden. Er that von dem Allen nichts, weil ihm sonderbarer Weise nicht anders zu Muthe war, als habe der alte Mann eine Anklage gegen ihn ausgesprochen mit jenen Worten. Der Weber hatte ihn so eindringlich und wie vorwurfsvoll bei denselben angesehen. Er wollte dem Altea nachgehen, wollte fernere Auskunft verlangen, wie sie ja schon die gewöhnliche Theilnahme an dem Mädchen, als an des Meister Lukas Tochter, fordern konnte – aber er fand jetzt nicht mehr den Muth dazu ... er mußte fürchten, sich durch seine Verstörtheit zu verrathen.

„Was zum Henker ist denn in Dich gefahren, Görge?“ fragte Hans Veit, als die Beiden einander wenig später antrafen. Sie waren nach kurzem Gruße eine Weile neben einander hergegangen, in einem Schweigen, von dem Georg gar nichts zu merken schien, während sein Genoß ihn dann und wann kopfschüttelnd von der Seite ansah. „Welch ein trübseliger stummer Geist ist über Dich gekommen! Hat Rosinchen dem Gadendiener einmal zuviel zugelacht? oder bist Du dahinter gekommen, daß sie zuweilen die Suppe anbrennen läßt?“

Georg hatte auf diese Fragen nur ein ungeduldiges Achselzucken. Hans Veit war von jeher sein Vertrauter gewesen, soweit Georg’s eigenmächtiger, zu raschem willkürlichen Handeln geneigter Charakter eines solchen bedurfte. In Bologna hatte Hans um Georg’s sämmtliche Abenteuer gewußt, um so mehr, da hier die deutschen Studenten immer bereit sein mußten, alle für einen einzustehen im Fall der Gefahr, an welcher es bei derartigen Händeln selten fehlte. Hilden aber hatte der junge Mensch seit dem Tage des Einritts in die Stadt mit keiner Silbe wieder gegen den alten Genossen erwähnt.

Hans Veit fragte niemals, aber er hielt die Augen offen, schon in dem kameradschaftlichen Gefühl, daß er im Falle der Noth oder Verlegenheit auch hier vielleicht eintreten müsse. Jetzt sagte er nach einer abermaligen ziemlich langen Pause gelassen: „Friß die Geschichte nicht länger in Dich hinein, Georg. Sie setzt Dir mehr zu als billig. So kenn’ ich Dich noch gar nicht. Die Weberstochter muß den Teufel im Leibe haben. Was ist’s mit ihr?“

Jetzt blieb Georg stehen und packte den Genossen am Handgelenk. „Sie ist krank, Hans!“ sagte er mit gepreßter Stimme.

„Krank!“ das Gesicht des Hans Veit verlängerte sich. „Nun, so wird sie wieder gesund werden. Ein krankes Liebchen – das ist allerdings ein schlechter Spaß.“

„Nenne sie nicht so,“ sagte Georg. „Du weißt nicht –“ er brach ab und zwang sich zu einem andern, dem Freunde verständlichern Ton. „Das ist eine Art, die wir noch nicht kannten ... Sieh mich an – das hat noch keine aus mir gemacht ... da mußte ich erst an eine halbe Heilige kommen! Tag und Nacht läßt es mir keine Ruhe ... und Wochen vergehen, ehe ich sie einmal zu sehen kriege.“

Er hatte dem Genossen das hübsche verstörte Gesicht zugewendet. Da waren allerdings deutliche Spuren ruheloser Tage und halb durchwachter Nächte. Die blauen Augen schienen tiefer zu liegen und sahen müde und doch schlaflos aus. Auf des Freundes halblauten Fluch, der des Hans’ wohlwollende Mißbilligung eines solchen Gemüthszustandes ausdrücken sollte, hatte Georg nur ein schwaches, rasch verfliegendes Lächeln. „Es thut nichts,“ sagte er, und nun leuchteten seine Augen auf. „Noch möchte ich keinen Tag aus meinem Leben missen. Aber jetzt mußt Du mir helfen, Hans! Noch vor heute Abend muß ich wissen, wie es mit ihr steht ... Du erfindungsreicher Odysseus bist mir nicht umsonst in den Weg gekommen. Mach Dir vor dem Thore etwas zu thun ... Du kannst in ihre Nähe gelangen, ohne daß Jemand Arg daraus hat. Vielleicht triffst Du auch eine Nachbarin ... der Alte ist in der Stadt, darum ist keine Zeit zu verlieren!“

Hans Veit zeigte sich willig, ging und traf verabredeter Maßen nach einiger Zeit im Rathskeller wieder mit seinem Freunde zusammen. Georg saß im dunkelsten Winkel des dämmernden Raumes hinter einem Kruge. Schweigend rückte er, um dem Andern Platz zu machen, mit zusammengepreßten Lippen die ungeduldige Erwartung niederhaltend. Hans Veit setzte sich zurecht und befeuchtete erst reichlich die Kehle. Dann erzählte er umständlich, wie klug er die Sache angefangen habe, so daß die Frau aus dem Nachbarhause Hildens, mit der er wie von ungefähr ins Gespräch gekommen sei, nicht den mindesten Argwohn habe schöpfen können, um was es ihm eigentlich zu thun gewesen. „Die frommen Weiblein helfen alle abwechselnd bei der Pflege,“ sagte er gemächlich. „Das ist so Sitte bei den Leuten dort unten –- aber es scheint, daß Dein armer Schatz nicht allzu viel Wartung bedarf. Sie liege stille vor sich hin und habe einen absonderlichen Widerwillen gegen alle Speise ... Ihr Vater meine, sie müsse einen Schrecken gehabt haben – die gute Frau gab mir aber zu verstehen, ihrer Ansicht nach sei die Jungfer in nächtlicher Stille einer überirdischen Erscheinung gewürdigt worden – dergleichen komme in der Gemeinde immer von Zeit zu Zeit einmal vor. Die Sache sieht übel aus für Dich, Bruderherz ... denn wessen kann man sich nicht alles versehen bei Leuten, die einen so ganz besondern Kredit dort oben genießen! Vielleicht hat sie von dorther eine Verwarnung erhalten, mit Dir räudigem Schafe fürderhin nichts mehr zu schaffen zu haben.“

Der versuchte Scherz verfehlte seine Wirkung. Georg senkte den Kopf in die Hände und vergrub aufstöhnend die Finger in das dichte Blondhaar. Hans Veit begriff ihn schon längst nicht mehr. Ihm wäre es verständlicher gewesen, wenn in einem solchen Falle, wo alles Verlockende am Weibe, die Schönheit, die Heiterkeit und Jugendkraft einstweilen wenigstens nicht zur Geltung kamen, auch die Neigung seines Gefährten gleichmüthig gestockt hätte. Georg aber liebte diesmal anders als bisher. Etwas in Hildens Wesen hatte seine innerste Seele berührt. Und vom ersten Augenblick an, da er von ihrer Erkrankung gehört, hatte ihn die Ueberzeugung nicht verlassen, daß er, daß der mächtige Eingriff in ihr Leben, dessen er sich schuldig fühlte, mit der Ursache derselben auch zusammenhing.

„Nun?“ fragte Hans Veit, da sich Georg endlich langsam, wie ein müder Mann, von seinem Sitze erhob. „Du kommst mir wunderlich vor, Georg. Sitzt die Sache so tief? Na höre einmal –“ als der Aeltere und Gesetztere von Beiden mochte sich Hans berufen fühlen, doch dann und wann auf Seite der gerechteren Sache, der künftigen Ehefrau, zu treten – „das könnte Dir die Rosine doch eigentlich übelnehmen!“

Georg erwiderte kein Wort; der Name der Rosine Külwetter war in diesem Augenblicke ein völlig tauber Schall für ihn. Sein Entschluß war gefaßt, da ihm in seiner derzeitigen Gemüthsverfassung nunmehr kein anderer übrig blieb. Er mußte Hilden selber sehen und sprechen, öffentlich, da es nicht heimlich sein konnte – wie wenn sie vielleicht nur daran krankte, daß er damit so lange gezögert hatte? –

Hilde hatte einer schweren körperlichen Mattigkeit nachgegeben, als sie am andern Morgen nach jener nächtlichen Ohnmacht, die vielmehr eine lange währende dumpfe Lähmung aller Sinne war, ihr Lager nicht verließ. Ihr guter Vater war tief erschrocken und bekümmert ... in seinen Augen las sie, daß sie krank sei, wirklich krank, nicht nur zum Sterben müde und jedes Tones und jedes Lichtstrahles, der die gewohnte Umgebung jetzt mit Tagesanbruch erhellte, unsäglich überdrüssig. Wie würde seine Sorge ihr sonst ins Herz geschnitten haben – jetzt aber gebrach ihr die

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