Seite:Die Gartenlaube (1885) 223.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

einen harten Kopf, den die Macht der Verhältnisse doch nicht so leicht binnen vier Wochen wandeln dürfte.“

Sie reichte den beiden alten Leuten abschiednehmend die Hand und verließ, von ihnen bis zur Treppe geleitet, das Packhaus. Sie ging weit gedankenvoller, als sie gekommen war … War das ein köstliches Zusammenleben in dem alten Hause da hinter ihr! Je heftiger das Schicksal auf die Herzen einstürmte, desto enger schlossen sie sich an einander an.

Ihr Blick flog unwillkürlich über die vornehme obere Etage des Vorderhauses – da herrschte freilich ein anderer Geist, „Anstand, gute Sitte, Konvenienz“ nannte ihn die Großmama, und „verknöcherte Selbstsucht, gepaart mit verachtungswürdigem Unterwerfungstrieb gegen Hochgestellte“ der alte Mann, der lieber einsam draußen auf dem Lande lebte, als daß er die Eisesluft athmete, in welcher sich die distinguirte Frau Gemahlin gefiel. War es da ein Wunder, wenn Herbert – aber nein, selbst im Geiste durfte sie ihn nicht mehr durch das Vorurtheil kränken, daß er herzlos sei! … Er war gut zu ihr. Er hatte ihr sogar zweimal nach Berlin geschrieben, fürsorglich, als sei er ihr Vormund, und sie hatte ihm geantwortet. Darauf hin war er ihr bei ihrer Rückkehr auf die letzte größere Station entgegengekommen, in dem zartsinnigen Wunsche, ihr das Wiederbetreten des vereinsamten Vaterhauses in etwas zu erleichtern … Das hatte die Großmama freilich nicht erfahren; sie hätte diese Zuvorkommenheit und Herablassung des Herrn Landraths gegen das junge Ding, die Grete, sicher nicht gebilligt, schon aus dem Grunde nicht, weil sie ihr das Leid angethan hatte, durchaus nicht Baronin von Billingen werden zu wollen. Die alte Dame hatte bitterböse darüber an ihre Schwester und Margarete geschrieben … Wie Herbert über das Scheitern dieser Wünsche dachte, das war dem jungen Mädchen bis zur Stunde dunkel geblieben. Er hatte die delikate Angelegenheit in keinem seiner Briefe erwähnt, und sie war auf ihrer Hut gewesen, auch nur mit einem Worte daran zu rühren …

Mit diesen abschweifenden Betrachtungen war sie längst in die Hofstube zurückgekehrt und hatte die Geldrolle wieder in den Kasten des Schreibtisches gleiten lassen – unter einem abermaligen Erröthen. So konnte und durfte sie ihre Theilnahme für den kleinen Max nicht wieder bethätigen wollen – der Weg war ihr verschlossen. Sie fühlte sich machtlos; die Verhältnisse übersehen und wissen, wie da zu wirken sei, das konnte nur ein Mann. Sie nahm sich vor, mit Herbert darüber zu sprechen …


19.

Seitdem waren zwei Tage verstrichen. Der Landrath war noch nicht zurückgekehrt, und deßhalb herrschte tiefe Ruhe auf der sonst so frequentirten Treppe und im oberen Stocke. Margarete ging jeden Morgen pflichtschuldigst hinauf, um der Großmama guten Tag zu sagen. Das war stets ein saurer Gang; denn die alte Dame grollte und zürnte noch heftig. Sie schalt zwar nicht laut – Gott behüte, nur keine offenkundige Leidenschaftlichkeit! Der gute Ton hat ja dafür feinere und desto sicherer treffende Waffen: Messerschärfe in Blick und Stimme, und Dolch- und Nadelspitzen auf der Zunge. Aber diese Art und Weise des Angriffs empörte die Enkelin doppelt, und sie brauchte oft ihre ganze Selbstbeherrschung, um gelassen und schweigend zu ertragen … Meist ungnädig entlassen, ging sie dann immer mit dem Gefühl der Erlösung die Treppe wieder hinab, um für einen Moment in den Flursaal einzutreten. Es herrschte zwar eine mörderische Kälte in dem weiten Saale, und Papas Privatzimmer waren versiegelt; nicht einer der traulichen Räume, in denen er gelebt und geathmet, nicht der kleinste Gegenstand, den seine Hand berührt, waren ihr zugänglich; sie mußte sich mit der Stelle begnügen, wo sie ihn zum letzten Male friedlich schlafend, einen Schein der Verklärung auf der im Leben so finsteren Stirn, gesehen hatte. Aber an dieser Stelle überkam sie doch immer das wehmüthige und wohlthuende Gefühl, als spüre sie einen Hauch seiner Nähe. Drunten geschah ja Alles, um die Spuren seines Daseins und Wirkens möglichst schnell zu verwischen. –

Heute Morgen nun hatte Margarete beim Verlassen des Flursaales eine Begegnung gehabt. Sie war rasch auf die Schwelle der Thür getreten und hatte plötzlich Auge in Auge vor der eben vorübergehenden schönen Heloise gestanden. Der jungen Dame um einige Schritte voraus war die Baronin Taubeneck die Treppenwendung hinauf gekeucht; sie hatte, von der Anstrengung des Emporsteigens ganz benommen, die aus dem Flursaale Tretende gar nicht gesehen; ihre Tochter dagegen hatte sehr freundlich gegrüßt, ja, ihr Blick war sogar mit dem unverkennbaren Ausdrucke von Theilnahme über die Mädchengestalt in tiefer Trauer hingeglitten, das konnte Margarete sich selbst nicht wegleugnen, und doch war sie in Versuchung gewesen, den höflichen Gruß zu ignoriren und, ohne ihn zu erwidern, in den Flursaal zurückzuflüchten. … Diese schöne, gerühmte Heloise war ihr nun einmal in tiefster Seele unsympathisch – weßhalb? Sie wußte es selbst kaum. So in nächster Nähe gesehen, war die herzogliche Nichte in der That am schönsten. Die herrliche Sammethaut des jungen Gesichts, die Pracht der Farben und die großen, glänzend blauen Augen blendeten förmlich, und der Großpapa hatte Recht, wenn er sagte, davor müsse sich seine Enkelin, das braune Maikäferchen, verkriechen. Selbst die phlegmatische Ruhe ihres Wesens machte sich im Gehen nur als stolze Würde und Vornehmheit geltend. „Was, Neid, Grete?“ hatte sich das junge Mädchen selbst in diesem Augenblicke des aufsteigenden Grolles und Widerwillens gefragt. Nein, Neid war es nicht! Ihr war es ja stets ein Genuß gewesen, in ein schönes Mädchenantlitz zu sehen – Neid war es ganz bestimmt nicht! Wohl aber mochte es die angeborene Verbitterung des plebejischen Blutes gegen die Widersacher des Bürgerthums sein – ja, das war der Grund! Und als die Großmama droben unter einem Wortschwalle der Freude und Beglückung dem Besuche entgegengekommen war, da hatte das junge Mädchen die Hände auf die Ohren gelegt und war die Treppe hinabgeflogen.

Drunten aber hatte der herrschaftliche Schlitten, eine herrliche Muschel mit kostbarer Pelzdecke, vor der Thür gehalten, und nachdem später die Damen wieder eingestiegen waren, da hatte die schöne Heloise mit ihrem weißen Schleier und wehenden Goldhaare ausgesehen, als fliege eine Fee über den Schnee hin. O weh, wie lächerlich dagegen mochte neulich das zusammengeduckte „Rumpelstilzchen“ im Schlitten gehockt haben, wie frostgeschüttelt und hilfsbedürftig neben Herbert’s vornehmer Erscheinung! –

Den ganzen Tag über hatte sie bittere, aufdringliche Gedanken und Empfindungen nicht loswerden können, und dazu war es dunkel in allen Stuben. Der Himmel schüttelte unermüdlich ein dichtes Flockengestöber über die kleine Stadt her, und nur selten fuhr ein Windstoß lichtend durch die stürzenden Schneemassen, die wie ein silberstoffener Behang alle Aussicht in Gassen und Straßen verschloß. … Erst am Abend, als die Lampe auf dem Tische brannte, wurde es heimlicher in der Wohnstube und stiller in Margaretens Seele. Tante Sophie war trotz des Schneewetters ausgegangen, um einige unaufschiebbare Bestellungen zu machen, und Reinhold arbeitete in seiner Schreibstube; er kam überhaupt nur noch herüber, wenn er zu Tische gerufen wurde.

Margarete ordnete den Abendtisch. Im Ofen brannten die Holzscheite lichterloh und warfen durch die Oeffnung der Messingthür einen breiten, behaglichen Schein über die Dielen, und von dem Gesims der unverhüllten Fenster her, gegen die draußen die Schneeflocken wie hilflos flatternde Seelchen taumelten, um an den erwärmten Scheiben rettungslos zu sterben, dufteten doppelt süß Tante Sophiens Pfleglinge, ganze Schaaren von Veilchen und Maiblumen. … Nein, gerade dem häßlichen Tage zum Trotze sollte nun der Abend gemüthlich werden! Bärbe brachte sauber garnirte kalte Schüsseln herein, und Margarete entzündete den Spiritus unter der Theemaschine, und als Reinhold sagen ließ, man möge ihm ein belegtes Butterbrot hinüberschicken, er werde nicht kommen, da wurde das Herz der Schwester erst recht leicht.

Draußen fuhren mehrere Wagen vorüber, und es war auch, als halte einer derselben vor dem Hause. War der Landrath zurückgekommen? Nun, das erfuhr man ja morgen, früher freilich nicht! – Margarete fuhr fort, Schinkenscheibchen auf Reinhold’s Butterbrot zu legen; sie sah auch nicht auf, als ein leises Thürgeräusch an ihr Ohr schlug – Bärbe brachte jedenfalls noch Etwas für den Tisch herein; aber ein so kalter Luftzug, wie er eben über ihre Wange strich, kam doch nicht von der warmen Küche her; unwillkürlich bückte sie auf, und da sah sie den Landrath an der Thür stehen. Sie schrak heftig zusammen, und die Gabel mit dem Schinken entfiel ihrer Hand.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_223.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2024)