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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

ihrer Küche und jammert um die Pastetchen, die derweil Saft und Kraft verlieren.“

Und nach einem Blick aus dem Fenster über den Markt hin, wo die Schüler eben aus einander gingen und der ersehnte Reiter sich immer noch nicht zeigte, meinte sie: „Du könntest schnell noch einmal die Treppe hinaufspringen, Gretel. Der Schlosser ist droben und bringt die Bodenkammerthür in Ordnung. Ich hab’ Sorge, daß er’s mit den hingelehnten Bildern nicht genau nimmt.“

Margarete ging hinauf, an den unversehrten Bildern vorüber. Die vorgestemmten Balkenstücke waren wieder entfernt, und die Thür stand offen wie in der vergangenen Nacht. Der Schlosser hantirte an den losgerissenen Angeln, unter dem freigelegten Dachgerüst waren Zimmerleute beschäftigt.

Sie trat auf die kreischenden Bodendielen, unter das eisenfeste, gebräunte Gebälk hinaus, das scharf gezähnt in den blauen Himmel hineinschnitt. Jetzt lag die klare Oktobersonne auf der Fußspur, von welcher der Papa in der Nacht gesprochen hatte. Sie schüttelte den Kopf – seine Sohlen waren sicher nie über diese rohen, ungehobelten Bretter gegangen, höchstens der benagelte Schuh der früheren Packer … Alte Häuser haben freilich ihre Geheimnisse, und für die Sonntagskinder glitzern die Augen der Hausgeisterchen unter den schleierhaften Staubschichten und Spinnweben, und das Zischeln von lichtscheuen Thaten und sonstigen schlimmen Dingen kommt aus allen Ecken. Warum aber gerade hier, in den ehemaligen Lagerräumen unverfänglicher Leinenballen, der Sturm ein ungelöstes Räthsel habe aufjagen und an den Tag bringen sollen, das begriff sie jetzt unter dem lachenden Tageshimmel noch viel weniger als in der Nacht, da der Papa so wunderlich gesprochen …

Hier oben in den Lüften wehte ein ziemlich starker Zugwind, der dem jungen Mädchen das Haar aufflattern machte. Sie zog einen kleinen, schwarzen Spitzenshawl aus der Tasche, band ihn über den Kopf und wollte eben die Speicherräume entlang schreiten, als ein lautes Aufkreischen von Frauenstimmen aus den offenen Küchenfenstern ihren Schritt hemmte … Kein Gesicht zeigte sich an den Fenstern, wohl aber stürzte in diesem Augenblick der Kutscher in den Hof und rannte nach den Ställen, und verschiedene andere Menschen, die nicht in das Haus gehörten, liefen mit. Die Arbeiter sprangen von dem Trümmerhaufen, und im Nu drängte sich inmitten des Hofes ein Menschenknäul um einen Bauer, der mit fliegendem Athem und so scheuer gedämpfter Stimme sprach, als fürchte er, es könne ein Widerhall von den Mauern laut werden.

„Hinter dem Dambacher Hölzchen,“ klang es wie verloren herauf, und „hinter dem Dambacher Hölzchen haben sie ihn gefunden,“ sagte plötzlich eine Stimme dicht an der halboffenen Thür des nächsten Bodenraumes. Es war ein Lehrjunge, der von unten heraufkam. „Sein Pferd ist an einen Baum angebunden gewesen,“ berichtete er athemlos weiter, und er hat auf dem Moose gelegen – die Marktweiber haben gedacht, er schliefe. Nun haben sie ihn wieder in die Fabrik geschafft. Solch ein reicher Mann wie der, hat viele hundert Fabrikleute unter sich und Kutscher und Bedienten, und hat doch so allein –“ er verstummte erschrocken vor dem entgeisterten Mädchenantlitz unter dem schwarzen Spitzentuch, vor den großen, entsetzten Augen und der schlanken Gestalt, die mit schlaff herabhängenden Armen wie nachtwandelnd an ihm und den Gesellen vorüberschritt. Sie fragte nicht: „Ist er todt?“ Diese erblaßten Lippen waren wie im Krampfe geschlossen. Stumm glitt sie von Thür zu Thür, die Treppe des Packhauses hinab, und durch das offene Thor auf die Straße hinaus.

Und nun ging es eilenden Fußes durch die abgelegenen, menschenstillen Gassen, denselben Weg, auf welchem sie einst aus Furcht vor dem Institut davon gelaufen war … Ein erinnernder Gedanke an damals kam ihr freilich nicht; sie schritt auch nicht durch wogende Kornfelder, von der nachwirkenden Abendgluth der Julisonne umbrütet – weithin breiteten sich die Stoppelflächen, von denen Krähenscharen aufflogen. Sie hörte auch nicht das scharfe Gekreisch der Vögel, die einzigen Laute über der grabesstillen Herbstflur – ihr war, als zöge der Schülerchor neben und hinter ihr. „Es ist bestimmt in Gottes Rath“ klang es, fort und fort und lief mit ihr … Und dann blieb sie sekundenlang stehen und preßte stöhnend die Hände auf die Ohren und schloß die Augen. Nein, nicht das Schlimmste war geschehen! Nicht wie die schwanke Aehre, die ein einziger Sensenschnitt hinmäht, sank solch eine eisenfest gefügte, kraftstrotzende Gestalt dahin; nicht so griff die dunkle Hand in das hochgesteigerte Getriebe menschlicher Pläne und Entschlüsse und wischte jäh entscheidende Worte von den Lippen! – Weiter flogen die Füße im rasenden Lauf, über das Blachfeld, die Anhöhe empor durch das raschelnde Laub, mit welchem der nächtliche Sturm den Weg hinter dem Wäldchen beschüttet hatte. Sie konnte ja nicht schnell genug hinkommen, um die unsägliche Qual loszuwerden, um zu sehen, daß es nur ein heftiger Schwindelanfall gewesen, daß Alles wieder gut, Alles beim Alten, daß die Stimme wie immer zu ihr sprach, die Augen sie anblickten und diese entsetzliche Stunde wie ein grauenvoller Traum überstanden sei.

„Hinter dem Dambacher Hölzchen haben sie ihn gefunden,“ klang es aber wieder aufschreckend in ihrem Ohr, und jetzt stockte ihr Fuß, und der ihr Herz süß beschleichende Glaube an einen täuschenden Traum zerrann grausam. Da, wo sich die Birken zwischen die Buchenstämme mischten, ja, da war es gewesen! Da war der Boden von Menschenfüßen zerstampft wie ein Kampfplatz, da hatte man mächtige Äeste von den Bäumen gerissen, um Raum zu gewinnen. Ihre innere Kraft brach wie unter einem Streich zusammen, und als das Wäldchen, und die ersten Dorfhäuser endlich hinter ihr lagen und die Fabrikgebäude sich in Steinwurfsweite drüben hindehnten, da lehnte sie sich mit wankenden Knieen an eine der Linden, die dem Thor des Fabrikhofes gegenüber den Rast- und Erholungsplatz der Arbeiter beschatteten.

Im Hofe standen viele der Fabrikleute in Gruppen; aber kein Laut einer Menschenstimme kam von dort her; man hörte nur die Huftritte eines Pferdes – es war Herbert’s Brauner, der auf- und abgeführt wurde. In demselben Augenblick, wo Margarete die Linden erreichte, trat der Landrath drüben aus dem Garten in den Fabrikhof, und fast zugleich bog von der seitwärts hinlaufenden Chaussee eine Equipage ab und brauste vor das Thor. Wie durch einen Nebel sah das junge Mädchen flatternde Bänder und wallende Hutfedern - die Damen vom Prinzenhofe saßen im Wagen.

„Um Gotteswillen, bester Landrath, beruhigen Sie mich!“ rief die Baronin Taubeneck Herbert entgegen, der an den Wagenschlag trat und sich verbeugte – er war bleich wie ein Todter. „Gerechter! Wie sehen Sie aus! Also ist es doch wahr, das Entsetzliche, Unglaubliche, das mir der Oberamtmann von Hermsleben eben beim Begegnen mittheilte? Unser lieber, armer Kommerzienrath –“

„Er lebt, Onkel – nicht wahr, er lebt?“ sagte da eine flehende, in verhaltenem Schmerz vergehende Stimme dicht neben ihm, und heiße Finger preßten seine Hand.

Er fuhr in heftigem Schrecken herum. „Um Gott, Margarete –!“

Die Damen im Wagen bogen sich vor und starrten die reiche Kaufmannstochter an, die erhitzt und bestaubt, im einfachen Morgenkleid und einen schwarzen Shawl um den Kopf gebunden, wie ein Dienstmädchen dahergekommen war.

„Wie, Fräulein Lamprecht, Ihre Nichte, lieber Landrath?“ fragte die dicke Dame stockend und ungläubig, aber auch mit jener beschränkten Neugier, die sich selbst in den peinlichsten Momenten vordrängt.

Er antwortete nicht, und Margarete hatte nicht einmal einen Blick für seine zukünftige vornehme Schwiegermutter – was wußte sie in diesem entsetzlichen Augenblick von den Beziehungen dieser drei Menschen zu einander! In wilder Angst haftete ihr Auge auf Herbert’s verstörtem Gesicht.

„Margarete –“ er sprach nicht weiter, aber sein Ton voll innerer Qual sagte ihr Alles. Sie schauderte in sich zusammen, stieß seine Hand, die sie noch fest umklammert hielt, von sich und schritt über den Hof nach dem Pavillon.

„Es scheint ihr sehr nahe zu gehen – sie hat den Kopf total verloren,“ hörte sie die klare, kühle Stimme der schönen Heloise mitleidig hinter sich sagen. „Wie wäre es ihr sonst möglich gewesen, so derangirt die Straßen der Stadt zu passiren!“

In dem Hausflur des Pavillons standen zwei im Fortgehen begriffene Aerzte der Stadt und die in Thränen schwimmende Faktorin, und halblaute Worte von Gehirnschlag und einem schönen, beneidenswerthen Tod schlugen an Margaretens Ohr.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_190.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2024)