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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

gegenüber, gestanden und weder mit gelacht noch ein einziges Wort gesprochen, obwohl sie, als die Bewohnerin des Hauses und Gartens, dessen Gebiet gewissermaßen durch die Fremden verletzt worden war, am meisten zum Reden berechtigt gewesen wäre. Sie war eine große Gestalt, die sich auffallend gerade trug, und Georg, dem kein äußerer Vorzug eines Weibes so leicht entging, erkannte ihr diesen im Stillen zu, während er dem Gesicht im ersten Augenblick allen Reiz absprach. Uebrigens hielt er die kleine Scene für beendigt, oder glaubte sie zu beendigen, indem er noch einmal höflich die schwarze Kopfbedeckung in die Höhe hob und dann das Pferd dem Flüßchen zuwendete. Mit flüchtiger Verwunderung schaute er dabei noch einmal in das Gesicht der Hilde, welches ihn ruhig und ernsthaft, wenn nicht gar ein wenig finster, ansah und von der halb scheuen halb dreisten Bewunderung seiner, die er an solchen Mädchen geringeren Standes gewohnt war, auch so gar nichts verrieth.

„Der Henker auch, wie sollen wir da hinüber?“ ließ sich jetzt Hans Veit ärgerlich vernehmen. Auch Georg war betroffen da er gewahren mußte, daß die Veränderung, welche drei Jahre hier hervorgebracht hatten, sich sogar auf das Bett des wohlbekannten Baches erstreckte. Derselbe mochte seitdem nach Herbst- und Frühlingsregengüssen ungewöhnlich starke Wassermassen vom Waldgebirge hernieder geführt haben. Jetzt freilich floß das Wasser seicht, aber tief im Grunde einer häßlich aufgewühlten mächtigen Rinne, deren diesseits jähe abfallender Rand mit seinem nachbröckelnden Erdreich den Pferden, selbst wenn die Rinne minder breit gewesen wäre, keinen sicheren Raum zum Sprunge bot.

„Eine Ziege kann da hinunter und jenseits wieder hinauf, aber kein schwerer Gaul,“ sagte Hans Veit. „Das Stadtthor bleibt uns nicht erspart, Georg.“

„Meint Ihr?“ sagte der Bürgermeisterssohn trocken. Er war einige Schritt am Rande des Grabens entlang geritten und jetzt an eine Stelle gekommen, wo, nicht von der Wiesenfläche aus, da dort das Bett des Baches am breitesten war, sondern in halber Höhe der Grabenwandungen eine Art Steg hinüber geschlagen worden war. Man sah denselben nicht, bis man dicht darüber stand. Von der Wiese aus ging es hier steil hinunter, und die Brücke selbst war ganz roh von Pfählen und lose darüber gelegten Balken und Bretterm hergestellt.

Hans Veit war, wie man zu sagen pflegt, starr vor Staunen, als er die Absicht seines Freundes gewahren mußte, hier hinüber zu reiten. „Seid Ihr toll, Jürgen?“ rief er endlich. „Ihr bringt das Pferd gar nicht hinunter!“

Das schien in der That so. Das Pferd Georg’s, ein ziemlich derber Brauner, aber nicht von unedlem Schlage, scheute vor dem aus der Tiefe aufblinkenden Wasser und war zu dem Abstieg, der ihm überdies mehr von der Behendigkeit einer Ziege zumuthete, als ihm genehm sein mochte, lange nicht zu bewegen.

Mit dem Widerstande des Thieres aber erwachte eine Art von zähem Eigensinn bei Georg. Unermüdlich, mit mehr Geduld und größerem Aufwand an Reitkunst, als er bei manchem glänzenden Festspiel entfaltet hatte, wiederholte er den Versuch, das Pferd erst zurückzuwenden und bei jedem folgenden Male immer näher an den Grabenrand zu bringen.

Hans Veit hielt indessen kopfschüttelnd daneben. „Der hartköpfige Satan!“ brummte er in den Bart; laut sagte er nach einer Weile: „Und wenn Ihr den Gaul unten habt, Georg, was dann? Wenn Ihr noch den Hals aufs Spiel setztet! Ein solches Stücklein hat man Euch wohl schon mehrmals wagen sehen! Aber hier ist nichts zu holen, als daß Ihr dem Pferde die Beine brecht – schade darum ... der Braune tritt fehl, er geräth zwischen die Bretter – seht die handbreiten Spalten – Ihr bringt ihn nimmermehr heil hinüber.“

„Das ist meine Sache,“ erwiderte Georg zwischen den Zähnen. Eben drehte er, zum wer weiß wie vielten Male, des Pferdes Kopf gegen das Ufer. Das Thier zitterte an allen Gliedern, aber endlich überwand der stärkere Wille des Reiters, der mit angespannten Muskeln, die Falte eines hartnäckigen Entschlusses zwischen den Brauen, nicht nachließ ... die Faust, welche den Zügel hielt, fest wie Eisen während die andere Hand der Furcht des Geschöpfes gleichsam Zugeständnisse machte und ihm schmeichelnd und ermuthigend den feuchten Hals streichelte und klopfte.

Nun aber kam erst der schwerste Theil des wunderlichen Unternehmens. Das Pferd stand, die Vorderbeine steif, die vier Hufe eng zusammengedrängt auf einem Erdfleck, der ihnen kaum Raum bot, zwischen der hinten steil aufsteigenden Uferwand und dem Steg mit seinen klaffenden Bohlen; seine Flanken flogen, und in den starren vollen Augen lag das äußerste Entsetzen. Kein schmeichelndes Zureden des Reiters half, und Gewalt gegen das Thier brauchen, hieß es ohne weiteres hinabstürzen. War auch die Tiefe nicht beträchtlich, so war doch das nach unten immer mehr sich verengende steinige Bett des Baches gerade der Ort, aus dem ein Mann und ein schweres Pferd nicht ohne Schaden wieder herauskommen würden.

Sämmtlichen Zeugen der Scene war es klar, daß sich der junge Mann durch seinen sonderbaren Eigensinn in eine fatale Lage gebracht hatte. Mit einiger Schadenfreude, aber zugleich nicht ohne Besorgniß, blickte Hans Veit, der so nahe wie möglich an den Grabenrand herangeritten war, hinunter. Die Mädchen drängten sich ängstlich herzu, um mit einem nicht ganz unangenehmen Grauen zu sehen, was dem hübschen tollkühnen Menschen da alles zustoßen werde.

„Ich bitte Euch, Georg, steigt ab,“ rief Hans Veit endlich. „Am Zügel bringt Ihr ihn vielleicht hinüber!“ Er hatte die Worte längst auf der Zunge gehabt, sie aber immer noch zurückgehalten in der Voraussicht dessen, was nun auch eintraf: daß nämlich die Mahnung ihr Gegentheil bewirken und den hartnäckigen Vorsatz seines Gefährten nur reizen werde.

„Der Teufel soll mich holen, wenn ich dem feigen Racker den Willen thue,“ stieß Georg heraus. „Hinüber oder hinunter, aber ich bin auch dabei.“

Ein weiterer Versuch, das Pferd auf den Steg zu nöthigen, wobei es sich schnaubend bäumte, wurde von einem hellen Angstschrei der Mädchen begleitet. Hierdurch ganz scheu gemacht, stieg der Braune plötzlich kerzengerade auf den Hinterbeinen in die Höhe ... Die Vorderhufe hieben durch die Luft, und daß sie beim Niederfallen nicht auf die Planken des Steges treffen würden, sondern daß die nächsten Augenblicke einen gefährlichen Sturz des Reiters herbeiführen müßten, war offenbar. Allen Theilnehmern stockte der Athem; dem Hans Veit blieb ein ärgerlicher Fluch über den tollen Burschen zwischen den Zähnen stecken.

Da, als gerade das Thier das mühsam durch fortwährende Versetzung der Hinterhufe erhaltene Gleichgewicht verlor, glitt eine Gestalt pfeilschnell den Uferrand hinunter, eine Hand griff nach dem Zügel, hart ins Gebiß reißend, eine Schulter stemmte sich gegen die Flanke des Thieres und dräugte es zur Seite, auf den Weg – die Hand und die Schulter eines Weibes!

So blieb sie, dicht an den Gaul gedrängt, ohne die eisenbewehrten Hufe zu scheuen, und nur so fand sie auf den Planken Raum neben dem Thier, das ihre kräftige Hand in wenigen Sekunden hinüber geleitet hatte. Kaum fühlte das Pferd jenseits festen Grund, als es mit einem letzten Satze der Angst das steile Ufer nahm und oben zitternd stand. Das Alles war so rasch, so völlig unerwartet, vor sich gegangen, daß sämmtliche Theilnehmer bis auf die Eine, vielleicht die Hauptperson darin, den kleinen Auftritt eigentlich erst begriffen, als er schon vorüber war. Die Mädchen fanden, aufathmend, wie von einer Last befreit, plötzlich die Sprache wieder. „Hilde! Gott steh uns bei – was die alles macht! ich hätte den Tod vor Angst dabei gehabt!“ rief es durcheinander.

Hilde kam indessen ruhig über den Steg zurück, wobei sie den Kopf vielleicht nicht ganz so hoch hielt, wie sie sonst pflegte. Sie sah eher unmuthig aus, als zufrieden, und trat jetzt unter die übrigen Mädchen, wie um sich der ausschließlichen Aufmerksannkeit, die sie auf sich gelenkt hatte, wieder zu entziehen. „Kommt an die Arbeit,“ sagte sie und schnitt damit alle Ausrufungen über ihre kühne Hilfsleistung kurz ab, „oder es wird Nacht, ehe wir mit Gießen fertig sind.“

Hans Veit kam jetzt erst von seinem Staunen zu sich. „Brav, Mädchen!“ rief er halb lachend nach den Dirnen hin. „Bei Gott, der Herr Bürgermeister mag sich bei Dir bedanken, wenn ihm der Sohn heimgeritten kommt und nicht hinein getragen wird. Daß Du mir und meinem Gaul aber auch über den Teufelsweg hilfst, das wäre wohl zuviel verlangt, und ich denke, Jürgen, der längere Weg wird für mich der kürzere sein. Ich reite durchs Stadtthor hinein.“

Er grüßte nach dem Bürgermeisterssohn hinüber und wendete das Pferd um.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_170.jpg&oldid=- (Version vom 24.1.2020)