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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Ungleiche Kameraden.
Von H. Villinger. 0Mit Originalzeichnungen von Fritz Bergen.


Da wo die Stadt nach der östlichen Richtung hin aufhört, am schwarzen Gitterthor des Kirchhofes, saß seit Menschengedenken ein Hökerweib und verkaufte seine Waare, welche in Aepfeln, Eiern und Käse bestand. Wenn die Alte so regungslos, das Haupt gegen das Gitter gelehnt, da saß, machte sie den Eindruck eines niederländischen Bildes. Daran war der dunkelrothe Kattunmantel schuld, aus dessen breitausgeschlagener Kapuze ein faltiges Gesicht, blaue Augen und schneeweißes Haar sich scharf abhoben. Sie zählte achtzig Jahre, hatte immer am Kirchhof gesessen, und die Poesie ihres Lebens waren Leichenbegängnisse. All ihre Thränen, Seufzer und Gebete galten den Todten, die in ihrer Lade still an ihr vorüberzogen. Die Armseligkeit, welche ohne Blumen und Begleitung daherkam, griff ihr ins Herz, und sie weinte aus Mitgefühl; über ein reiches Leichenbegängniß zerfloß sie in Thränen der Bewunderung; wenn ihr aber gar der Wind einen Grabgesang zutrug, über ihr die alten Zitterpappeln rauschten und die Abend- oder Mittagssonne ihr warm auf das Haupt schien, dann war die Alte im siebenten Himmel. Jedoch nicht oft verewigte sich all dies zu ihrem Behagen; es starben mehr Arme als Reiche, und weit übers halbe Jahr hinaus blies ihr der Wind um die Ohren, und Regen und Schnee klatschten auf ihren großen blauen Schirm. Da nun aber Alles, was dies alte Herz zu empfinden vermochte, denen jenseit des Kirchhofthores galt, so blieb natürlicher Weise für die Lebendigen diesseit des Thores wenig oder gar nichts übrig. Die Klagen der armen Weiber über die theuern Eier rührten die Alte ebenso wenig, als das Murren der Männer über den Preis der Käse. Hungrigen Kinderaugen begegnete ihr Blick mit der vollkommensten Empfindungslosigkeit - denn Armuth, Hunger und Kälte waren ihr so natürliche Dinge, daß ihr dabei nichts weiter einfiel. Indem sie nie von dem einmal bestimmten Preis herunter ging, kam es ihr auch nicht in den Sinn, wohlhabend aussehende Leute zu übertheuern, wenn solche bei ihr anhielten, um etwas Obst zu kaufen. Sie war gerecht, die Alte – sowohl im Geschäft als in ihren Reden.

„Du, gib mir einen Apfel!“

In der ganzen Gasse gab’s Keinen, der hätte behaupten können, die Frau habe ein freundliches Wort an ihn verloren, damit sie seine Kundschaft erhalte. Im Gegentheil, wenn Einer sich einmal eine Bemerkung erlaubte wie: „Heut’ sind sie aber klein gerathen die Käschen“ – so erwiderte sie kurz: „Geht in den Laden und laßt sie Euch an der Elle abmessen.“

An einem schönen Herbstmorgen, die Alte saß schon auf ihrem Platze, erschien auf der Treppe eines alten Hauses gegeuüber ein kleiner, kaum fünfjähriger Bursche und schaute sich ernsthaft in der Welt um; er hielt einen langen Eisenhaken in der Hand, auf dem Rücken hing ihm ein Blechkessel. Die Blicke des Buben und der Hökerin begegneten sich – sie hätten können die Betrachtung anstellen, daß man nicht leicht älter und wohl kaum jünger sein konnte, um sein tägliches Brot zu verdienen – aber dergleichen fiel ihnen nicht ein. Der Bube setzte seine krummen, mit alten Lappen umwickelten Beinchen in Bewegung, die ihn schnurstracks vor den Aepfelkorb beförderten. „Du,“ sagte er, „gieb mir einen Apfel.“

„Gott bewahre,“ entgegnete die Frau, und nach einer düstern Pause wandte sich der Knabe zum Gehen und nahm seine Beschäftigung auf; er sammelte den Abfall der Gasse.

Im Laufe des Nachmittags kam er etwas müde unter der Last des gefüllten Kessels die Gasse einher gewackelt. Wieder zogen ihn die lachenden Aepfel unwiderstehlich in ihre Nähe. Er schaute sie lange an, endlich sagte er zu der alten Frau, die ihn scharf beobachtete. „Du, ich geb’ Dir gleich was aus meinem Kessel - wenn Du magst.“

„Und ich geb’ Dir auch gleich was,“ meinte sie mit einer bezeichnenden Handbewegung, „pfui Teufel – fort mit Deinem Lumpenzeug!“

Betrübt schlich er davon.

Am andern Morgen stand er schon wieder da; ein Leichenzug ging eben vorbei, und die Alte weinte. Der Bube wartete den geeigneten Moment ab und fragte dann:

„Du, giebst Du mir einen Apfel, wenn ich todt bin?“

„Wer todt ist, braucht keinen Apfel mehr,“ entgegnete die Alte.

„Aber ich,“ behauptete er.

„Ist das ein Bengel,“ fuhr sie auf, „nicht einmal seine Leich’ kann man mit Ruh’ betrachten – mach’ Dich fort – sag’ ich!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_152.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2019)