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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

dessen Herbeiführung ermöglicht und beschleunigt werden müßte mittels eifriger mündlicher und schriftlicher Wühlarbeit im Volke, mittels Stiftung von Geheimbünden und Anschluß derselben an das leitende Centrum, mittels Erlangung einflußreicher Stellungen und Verbindungen in der „Gesellschaft“, in der Verwaltung und Justiz, sowie in der Armee und Marine, und endlich – last not least – mittels schreckhaft zerstörerischer Thätigkeit gegen die bestehenden Gewalten.

Wie das alles gemeint war, wurde kund, als das terroristische Exekutivkomité den Zaren, weil er keine Anstalten machte, das Programm von Lipezk-Woronesch anzunehmen und auszuführen, am 26. August 1879 zum Tode „verurtheilte“.

Das war keine strohrenommistische Phrase, sondern ein terroristisches Verdikt, gefällt von Männern, welche das Zeug hatten, mit beispielloser Kühnheit und Ausdauer an der Vollziehung desselben zu arbeiten.

So weit und bis dahin war also der oppositionelle Gedanke in Russland gekommen? Ja, so weit und bis dahin. Die Verschwörung gegen den Zarismus hatte sich zum Mordkomplott gegen den Zaren zugespitzt und die Thaten dieses Komplotts ließen nicht lange auf sich warten. Sie folgten auch einander eine geraume Weile mit furchtbarer Folgerichtigkeit. Dabei wurden die Forderungen der modernen Physik und Chemie, alle Hilfsmittel der neuzeitlichen Technik mit wahrhaft dämonischer Findigkeit in Anwendung gebracht. Der Nihilismus hat es meisterlich verstanden, die Wissenschaft in den Dienst der Zerstörung zu stellen. Um den von seinem Exekutivkomité wider Alexander den Zweiten gefällten Todesspruch in Vollzug zu bringen, verlegte er sich auf’s Miniren und Sprengen. Daß hierbei, um den Zaren zu treffen, andere Menschen, viele, vielleicht sehr viele, mitgeopfert werden müßten, scheint den Minirern und Sprengern nicht den leisesten Skrupel gemacht zu haben. Was kümmert es die geschleuderte Bombe, so sie mit ihrem Zielobjekt zugleich auch noch anderes, vieles zertrümmert?

Der Zar war im Sommer nach Livadia in der Krym gegangen. Auf der Rückreise von dort nach Petersburg im Herbste sollte er getroffen werden. Zu diesem Zweck wurden zu gleicher Zeit nicht weniger als drei Minenattentate geplant und vorbereitet, um den kaiserlichen Bahnzug in die Luft zu sprengen. Drei Minen wurden unter die Bahnlinien getrieben: eine unfern von Odessa, eine zweite bei Alexandrowsk, eine dritte bei Moskau.

Alle diese Minirarbeit war jedoch umsonst gethan: alle drei Sprengattentate schlugen fehl. Die nur halb fertiggestellte Mine bei Odessa wurde aufgegeben, weil die Verschwörer in Erfahrung gebracht hatten, daß der zarische Reiseplan geändert worden. Die Mine von Alexandrowsk sprang nicht infolge einer Mangelhaftigkeit der Zündkapsel, obzwar die elektrische Batterie im richtigen Augenblicke fungirt hatte, und so ging der Bahnzug, welcher den aus der Krym zurückkehrenden Kaiser und dessen Gefolge trug, ungefährdet über einen Abgrund weg, in dessen Tiefe ihn die Explosion unfehlbar gestürzt haben würde. Der 19. November ist der Tag, an welchem der kaiserliche Zug über die Mine bei Moskau rollen soll. Die Perowskaja ist auf dem Lugaus. Schirjajew, bei der Batterie postirt, passt auf das verabredete Signal. Es wird gegeben, die Kette geschlossen, der Blitz zuckt, der dumpfe Donner der Explosion kracht – aber er schlägt nicht ein am rechten Orte. Der von der Späherin signalisirte Zug wird gesprengt, aber es ist ein „unrechter“, es ist nicht der kaiserliche gewesen. Alexander der Zweite gelangte heil und gesund nach Petersburg. Die Minirerbande war im Hui verschwunden. Bei der amtlichen Untersuchung der gesprengten Mine wurde diese von Fachleuten als geschickt angelegt anerkannt. Die terroristische Technik hatte demnach, so zu sagen, das Doktorat erlangt.




2.

Der Nihilismus, in seiner Verwandlung zum Terrorismus, hatte demnach dem Zarismus einen systematischen Krieg angesagt, bis auf’s Messer, bis auf’s Dynamit, und er hatte selbigen Krieg thatkräftig angehoben. Diese entschlossenen Verschwörer, welche sich auf die Macht des Geheimnißvollen so gut verstanden und deren zeitweilige Ungreifbarkeit wie eine blitzesschwangere Wetterwolke über Russland hing, sind von einem ihrer Bewunderer „Idealisten höchsten Rangs“ genannt worden. Jede Zeit hat ja ihre Ideale und dem hochgelobten 19. Jahrhundert mit seinen „kolossal entwickelten Menschen“ kommt unter seinen vielen anderen Ehren auch diese zu, Mord und Zerstörung unter seine „Ideale“ eingereiht zu haben. Doch muß es auch hier wieder heißen: „Alles schon dagewesen!“ Als die Schreckensfexe von 1792–94 auf dem Altar der „Sainte-Guillotine“ ihre Hekatomben opferten, thaten sie es ja auch als „Idealisten höchsten Rangs“, als Priester ihres Ideal-Kultus der Dreifaltigkeit „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ – und der „Blutmessias“ Robespierre sammt Jüngerschaft sie ließen nie ein Mordgesetz ausgehen, ohne zuvor von „humanité“ und „vertu“ salbungsvoll zu bombastisiren. Der „Idealismus“ unserer russischen Terroristen war demnach, wie heutzutage noch so vieles andere, auch nur Imitation. Die Menschheit ist nachgerade so arm an Geist geworden, daß sie unvermögend, für neue Missethaten auch neue gleißende Begriffe und pomphafte Namen zu finden.

Die russischen „Idealisten höchsten Rangs“ waren aber zugleich hochgradige Realisten, das muß man ihnen lassen. Das Exekutivkomité verdiente redlich seinen Namen. Das Mißlingen der Attentatsversuche vom Herbste 1879 wurde ihm nur ein Sporn zu neuen Unternehmungen.

Die zunächst in’s Auge gefaßte und energisch an die Hand genommene war eine großartige. Eine so großartige, daß bei verhältnißmäßig so kleinen Mitteln nur die moderne Wissenschaft eine Möglichkeit der Ausführung gewährte. Der kaiserliche Winterpalast in Petersburg, eins der riesigsten Bauwerke, welche absolute Herrscherwillkür aufgethürmt hat, sollte in die Luft gesprengt werden. Diese Sprengung müßte ja wohl den Zaren mitsprengen. Die Insassenschaft des Schlosses zählte nach Tausenden – (6000?) – aber was hatte das zu sagen? Nichts, oder doch nur, daß diese Tausende immerhin in die Luft gehen mochten, wenn nur Alexander der Zweite mitging.

Da war seit mehreren Jahren in der russischen Hauptstadt ein Bauerssohn aus dem Gouvernement Wjatka, Stepan Chalturin, Schreiner von Handwerk und als sehr geschickter Lackirer bekannt. Allem nach ein sehr begabter Mensch, frühzeitig in den Nihilismus eingetaucht, dann ein fanatischer Bekenner des terroristischen Zerstörungsdogma’s. In den petersburger Arbeiterkreisen hatte er sich schon seit 1873 als organisatorischer Kopf und ebenso gewandter als muthiger Agitator einen großen Stand gemacht. Die Stiftung und Ausgestaltung eines „nordrussischen Arbeiterbundes“ im Jahre 1878 war vorzugsweise sein Werk. Er hatte sich auch als Zeitungsschreiber versucht und eine Geheimdruckerei angelegt, die aber bald entdeckt und aufgehoben worden war. Dieser Fehlschlag scheint den Lackirer erst so recht fanatisirt zu haben. Er ging hin, im Herbst von 1879, bot dem Exekutivkomité seine Dienste an und legte zugleich einen Plan vor, für den Fall, daß Alexander der Zweite den Minenattentaten von Odessa, Alexandrowsk und Moskau entrinnen sollte, den Winterpalast mit sammt dem heimgekehrten Zaren auffliegen zu machen.

Chalturin hat dafür gesorgt, daß wir über sein Wesen, Thun und Treiben genau und eingehend unterrichtet seien. Er hat ja schriftliche Aufzeichnungen hinterlassen, eine Art von Denkwürdigkeiten, betitelt „Prebywanije Chalturina w Simnem Dworcje“ (Chalturins Aufenthalt im Winterpalast).

Der von ihm vorgeschlagene vielversprechende Plan wurde angenommen, und als der vorausgesetzte Fall eingetroffen, ging Chalturin an’s Werk. Es fiel ihm nicht schwer, im Oktober unter die nicht geringe Anzahl von Arbeitern verschiedener Handwerke aufgenommen zu werden, welche jahraus jahrein im Winterpalast beschäftigt waren und in den Kellergeschossen ihre Werkstätten hatten, sowie ihre Schlafstätten. Der Schreinerwerkstatt zugetheilt und bald um seiner Geschicklichkeit willen bevorzugt, wußte er sich so angenehm zu machen, daß er zur Weihnacht eine Gratifikation von 100 Papierrubeln erhielt und der Palastgendarm, welcher die Aufsicht über die Schreinerwerkstatt hatte, dem liebenswürdigen Lackirer seine Tochter zur Ehe antrug.

Der scharfsichtige und schlaue Nihilist hatte es bald heraus, daß die Palastpolizei eine sehr lässige und die Unordnung und Korruption der Palastverwaltung gränzenlos sei. Die Dienerschaft veranstaltete für ihre Verwandten und Bekannten Trinkgelage im Schlosse, und auf den Hintertreppen gingen Tag und Nacht Leute aus und ein, welche nicht zu den Insassen gehörten. Alles, was Finger hatte, stahl, und um nicht durch Ehrlichkeit aufzufallen und sich verdächtig zu machen, mußte auch Chalturin ab und zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 46. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_046.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2017)