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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

hinzeigen!“ raunte Bärbe und griff nach der kleinen Hand, um sie niederzubiegen. Sie war dicht vor die Kinder getreten, als wolle sie die Kleinen mit ihrer breiten, massiven Figur decken, und kehrte dem bezeichneten Fenster den Rücken – um keinen Preis hätte sie noch einmal die Augen zurückgewendet. „Siehst Du, Gretchen, das hast Du nun von Deinem ewigen Hingucken! Ich wollte Dir’s vorhin schon sagen, aber Du bist ja immer gleich oben hinaus, und da war ich still … Für so ’was wie die Fenster da oben muß der Mensch gar keine Augen haben.“

„Abergläubische, alte Bärbe – das sollte nur Tante Sophie hören!“ schalt das kleine Mädchen ärgerlich und suchte - die vierschrötige Alte aus dem Wege zu schieben. „Erst recht muß man hinsehen! Ich will wissen, wer das gewesen ist! Es ging vorhin zu schnell – husch, war’s weg! – Ich glaube aber, es war Großmama’s Stubenmädchen, die hat so eine weiße Stirn –“

„Die?“ – Jetzt war es an der gescholtenen Köchin, eine überlegene Miene anzunehmen. „Erstlich, wie käme die in die Stube? Doch nicht durch’s Schlüsselloch? Und zum Zweiten thäte sie’s auch gar nicht – nicht um die Welt, Gretchen! Das naseweise Ding hat’s gerade so gemacht wie Du – die dachte auch, ihr könnt’s nicht fehlen, und da hat sie vorgestern Abend in der Dämmerstunde ebenso ihren Schreck weggehabt, wie gestern der Kutscher … Geh Du lieber ’nauf in die gute Stube mit den rothen Tapeten, wo die alten Bilder hängen – die mit den Karfunkelsteinen in ihren kohlpechschwarzen Haaren, die ist’s! Die hat wieder einmal keine Ruh in der Erde und huscht im Hause ’rum und erschreckt die Menschen.“

„Bärbe, Du sollst uns Kindern nicht solchen Unsinn vorschwatzen, hat die Tante gesagt!“ rief Margarete bitterböse und stampfte mit dem Fuße auf. „Siehst Du denn nicht, wie Holdchen sich ängstigt?“ ... Beruhigend wie ein Großmütterchen legte sie die Arme um den Hals des Knaben, der mit angsterfüllten, weit aufgerissenen Augen zuhörte. „Komm her, Du armes Kerlchen, fürchte Dich nicht, und lasse Dir doch nichts weismachen von der demmen Bärbe! Es giebt gar keine Gespenster – gar keine! Das ist Alles dummes Zeug!“

In diesem Augenblick trat Tante Sophie aus dem Hause. Sie brachte den Kaffee, und stellte einen großen, zuckerbestreuten Napfkuchen auf den Tisch. „Kind, Gretel, du siehst ja aus wie ein streitlustiges Kickelhähnchen! Was hat’s denn wieder einmal gegeben?“ fragte sie, während Bärbe sich schleunigst aus dem Staube machte und ihrem abwärts gerollten Leinenknäuel nachlief.

„Es war Jemand dort in der Stube,“ antwortete die Kleine kurz und knapp und zeigte nach dem Fenster.

Tante Sophie, die eben den Kuchen anschnitt, hielt inne. Sie drehte den Kopf um und streifte mit einem flüchtigen Blick die Fensterreihe. „Da oben?“ fragte sie mit halbem Lachen. „Du träumst am hellen Tage, Kind!“

„Nein, Tante, es war ein wirklicher Mensch! Gerade dort, wo der Vorhang so roth ist, da ging er auseinander. Ich sah ja die Finger, ganz weiße Finger, die ihn schoben, und auf einen Husch sah ich auch eine Stirn mit hellen Haaren –“

„Die Sonne, Gretel, weiter nichts!“ versetzte Tante Sophie gleichmüthig und hantirte taktmäßig mit ihrem Messer weiter an dem Kuchen. „Die spielt, und spiegelt in allen Farben auf den alten verwetterten Scheiben, und das täuscht. Hätt’ ich den Schlüssel, da müßtest Du auf der Stelle mit mir hinauf in die Stube, um Dich zu überzeugen, daß kein Mensch drin ist und dann wollten wir sehen, wer Recht behielte, Du Gänschen! Den Schlüssel hat aber der Papa, und die Großmama ist eben bei ihm, und da will ich nicht stören.“

„Bärbe sagt, die Frau, die im rothen Salon hängt, hätte herausgesehen – die läuft im Hause herum, Tante, und will alle Menschen erschrecken,“ klagte Reinhold in weinerlich ängstlichem Ton.

„Ach so!“ sagte Tante Sophie. Sie legte das Messer hin und sah über die Schulter nach der alten Köchin, die aus Leibeskräften an ihrem riesigen Knäuel wickelte. „Bist ja ein lieber Schatz, Bärbe – die richtige Jammerbase und Todtenunke! … Was hat Dir denn das arme Weibchen im rothen Salon gethan, daß Du sie zum Popanz für die Urenkelchen machst?“ –

„Ach, mit dem Popanz hat’s keine Noth, Fräulein Sophie!“ entgegnete Bärbe trotzig und ohne von ihrer Beschäftigung wegzusehen. „Gretchen glaubt’s so wie so nicht ... Das ist ja eben das Unglück heutzutage! Die Kinder kommen schon so superklug zur Welt, daß sie gar nichts mehr glauben wollen, was sie nicht mit Händen greifen können.“ – Sie wickelte mit so grimmigem Eifer weiter, als gelte es, all den kleinen Ungläubigen die Hälse zuzuschnüren. – „Glaubt der Mensch aber nicht mehr an die Geister- und Hexengeschichten, da kommt auch unser Herrgott zu kurz, ja – und das ist eben die Gottlosigkeit heutzutage, und darauf leb’ und sterb’ ich!“

„Das magst Du halten, wie Du willst; aber unsere Kinder lässest Du mir künftig aus dem Spiel, ein- für allemal!“ gebot Tante Sophie streng. Sie schenkte den Kindern Kaffee ein und legte ihnen Kuchen vor, dann ging sie, um ein Rosenbäumchen von der Wäschleine zu befreien, die sich, durch Bärbe’s Ungestüm in seinen Aesten verwickelt hatte.

„Die Sonne war’s aber nicht - das steht bombenfest! – Ich will’s schon herauskriegen, wer immer durch den Gang huscht und in die Stube schleicht!“ murmelte die kleine Skeptikerin am Kaffeetisch vor sich hin und brockte sich die Obertasse voll Kuchen. –




3.

„Auf ein Wort, Baldun!“ hatte die Frau Amtsräthin gebeten, und seit Herr Lamprecht die Ehre hatte, ihr Schwiegersohn zu sein, waren ihre Bitten stets wie Befehle seinerseits respektirt worden. So auch heute. Er hatte zwar eine tiefe Falte des Mißmuthes auf der Stirn, und am liebsten hätte er wohl dem verzogenen Papagei, der fortgesetzt kreischend gegen seinen mißliebigen Träger protestirte, den bunten Hals umgedreht; allein davon wurde der Frau Amtsräthin nicht das Geringste bemerklich, um so weniger, als, sehr zur rechten Zeit, das aus der oberen Etage kommende Stubenmädchen das Thier in Empfang nahm und hinauf trug. –

So ging das zarte, schmächtige Frauchen ahnungslos und graziös neben dem Schwiegersohne her; die Spitzenbarben ihres Häubchens wehten in der Zugluft des Treppenhauses, und die kurze, dunkelseidene Schleppe raschelte vornehm über die Stufen. – Sie waren ziemlich ausgetreten, diese breiten, mächtigen Sandsteinstufen. Weit über zwei Jahrhunderte hindurch war Alles, was das Haus an Lust und Leid gesehen, da hinauf- und hinabgeglitten. Hochzeiten und Tauffeierlichkeiten, Tanz- und Tafelfreuden, wie der letzte Prunkzug der Hingeschiedenen - das Alles, was den verschiedenen Generationen Kopf und Herz bewegt und erfüllt, es war verbraust und verschmerzt, und nur die Fußspur war geblieben – Und jetzt stieg die zierliche alte Dame mit ihren kleinen Goldkäferschuhen auch Stufe um Stufe hinauf, um droben eine Herzensbeklemmung los zu werden – Unmuth und Besorgniß sprachen deutlich genug aus ihren Zügen.

Herrn Lamprecht’s Privatwohnung bildete, hart an der Treppe gelegen, den Schluß der langen Zimmerreihe in der mittleren Etage. Hinter diesen Räumen, nach dem Hofe zu, lag der Korridor oder Flursaal, wie er im Hause genannt wurde, in seiner Länge und gewaltigen Breite so recht der Raumverschwendung der alten Zeiten entsprechend. Er endete erst hinter dem letzten Zimmer, dem sogenannten rothen Salon, dort bog er um die Ecke des angebauten östlichen Seitenflügels und verengte sich zu dem dämmernden Gang hinter Frau Dorotheens Sterbezimmer, in welchen nur an dem entgegengesetzten äußersten Winkel, da, wo ein paar kleine Stufen seitwärts in das Packhaus hinunterführten, das karge Tageslicht durch ein hochgelegenes Fensterchen hereinfiel.

In dem Flursaal standen alterthümliche Kredenzen von wundervoller Schnitzarbeit, und an der Rückwand, zwischen den herausführenden dunkelgebeizten Flügelthüren der Zimmer, reihten sich Stühle hin, über deren Sitze und Polsterlehnen sich noch derselbe gepreßte gelbe Sammet spannte, den einer der alten Kaufherren einst aus den Niederlanden mitgebracht … Hier war manches Menuett aufgeführt, mancher Festschmaus abgehalten worden, und es ließen sich auch heute noch die häßliche Frau Judith in der Spitzendormeuse und das verführerische junge Weib mit den Karfunkelsteinen im Haar als Herrinnen in die altfränkische Ausstattung unschwer hineindenken. – Aber mochte auch Vieles von dem Prachtgeräth der Urväter seinen Platz hier und in den Zimmern und Sälen drinnen behauptet haben, vor der Wohnung des Hausherrn machte die Pietät Halt, und der moderne Luxus übernahm die Herrschaft.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_022.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2019)