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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Als dann aber solche kindische Illusion die Enttäuschung erfuhr, welche sie naturnothwendig erfahren mußte, da warf sich ein nicht kleiner Theil der russischen Liberalen sofort in die äußerste Opposition. Ja, bald schon nach Alexanders des Zweiten Regierungsantritt begannen die Reihen der Reformer sich zu lichten und die der Revoluzer sich zu füllen. Der Leiter der Bewegung selbst, Herzen, hielt sich noch mehrere Jahre lang in den Schranken der Mäßigung. Der Mann hatte eben in Deutschland, Frankreich und England einsehen gelernt, daß man das verknechtete Zarenreich nicht von heute auf morgen zum Verfassungsstaat umzaubern könnte. Darum läutete er dazumal noch seine berühmte „Glocke“ (Kolokol) im Sinne der Reform. Wie willkommen ihre, obzwar amtlich verbotenen und verpönten, Klänge in Russland waren, was für einen mächtigen Widerhall sie in der russischen „Gesellschaft“ fanden, wird einleuchtend dadurch bezeugt, daß aus dieser Gesellschaft heraus eine Menge von Händen, darunter auch amtliche, höchstamtliche, unmittelbar oder mittelbar an Herzens Glockenstrang mitzogen.




2.

Auch der neue Zar vernahm den Glockenruf und war keineswegs gewillt, selbigen zu mißachten.

Alexander der Zweite war ein fühlender Mensch. Geradezu der menschlichste Mensch, welcher jemalen auf dem Zarenthron gesessen. Er hatte unter dem Unfehlbarkeitshochmuth seines Vorgängers ebenfalls, wie jeder Russe, sein gut Theil zu leiden gehabt und besaß auch Geist genug, um einzusehen, wie thöricht das nikolaische Unterfangen, Russland gegen die Anschauungen und Forderungen des Jahrhunderts vermauern zu wollen. Die schreienden Lehren, welche der Krimkrieg gegeben, waren von ihm verstanden, die thönernen Füße, auf welchen der Koloß des Zarismus stand, waren für ihn sichtbar geworden. Er begriff die Nothwendigkeit einer durchgreifenden Reform des ganzen Staatswesens und mit dieser Einsicht verband sich in ihm ein hohes Maß von humanen Regungen. Alexander empfand warm für sein Volk und wollte aufrichtig das Gute und Rechte.

Aber der Zar-Befreier („Zar-Oswoboditel“), welcher ihm gegebene Ehrenname trotz alledem ein verdienter war, hätte zusammt seiner Einsicht, seinem Wohlmeinen und Wohlwollen die Stahlfaust Peters des Großen besitzen müssen, so er seine riesige Aufgabe mit Hoffnung auf Erfolg anpacken wollte. Nur ein Mann von Genie, unbeirrbarem Scharfblick und unbeugsamer Willenskraft vermochte ein wirklicher Reformator für Russland zu werden. Ein solcher Mann war der zweite Alexander so wenig, wie es der erste gewesen, mit welchem Oheim der Neffe ja manche Aehnlichkeit hatte. Auch diese, nicht erkennen zu können, daß selbst ein erleuchteter, wohlwollender und milder Despotismus in den Rahmen der Kultur des 19. Jahrhunderts nicht mehr passte und daß demnach der Wunsch und Wille, Russland aus einem halbasiatischen Sultanat zu einem ganzeuropäischem Rechtsstaat umzuformen, die Opferung der Autokratie nothwendig zur Folge, nein, zur Voraussetzung haben müßte. Der Regenerator Russlands zu sein und dennoch Zar im Vollsinn des Wortes zu bleiben, das konnte zu seiner Zeit Peter der Große wollen, planen und vollbringen. Wenn aber Alexander der Zweite zu seiner Zeit das wollte und versuchte, so verwickelte er sich von vornherein in das Netz eines jammersäligen Widerspruchs, aus dessen Maschen nicht mehr herauszukommen war.

Und dann, über was für taugliche Werkzeuge zur Wirkung seines großen Werkes hatte der Zar-Befreier zu verfügen? Ueber gar keine. Niemand in Russland war darauf vorbereitet und eingeschult, das, was noththat, zu verstehen und zu thun. Wie hätten sich denn unter dem nikolaischen Regiment einsichtige, maßvolle und praktisch-geschickte Reformer heranbilden können? Unmöglich das! Die schlimmsten Folgen jenes Regiments traten erst zu Tage, als der Zar Nikolai nicht mehr war. Das Extrem zeugte das Extrem. Man hatte nicht gelernt, zu gehen, und versuchte jetzt, zu fliegen. Man beschwindelte sich gegenseitig mit Allgemeinheiten und berauschte einander mit Phrasen. Man übersah die Entwickelungsstufen, welche die Kulturnationen Europas hatten heraufklimmen müssen, um zum verfassungsmäßigen Staatsleben zu gelangen, oder, wo man diese Stufen nicht übersah, war man thöricht-eitel genug, zu wähnen, sie überspringen zu können.

Da es ein besitzendes und gebildetes Bürgerthum in Russland nicht gab, so hatte man es nur mit dem Adel, mit der Beamtenschaft und mit dem „Volk“, d. h. mit den leibeigenen Bauern zu thun. In jeden dieser drei Stände phantasirte man nun Eigenschaften hinein, welche man als für die Reform förderlich ansah.

Aber keiner dieser Stände besaß je die vorausgesetzte Eigenschaften. Der Adel fand bald heraus, daß es ein Anderes, für die Emancipation der Bauern phraseologisch-liberal zu schwärmen, und ein Anderes, sehr ein Anderes, die Einbußen zu tragen, welche für die bisherigen Besitzer der Leiber aus der Befreiung der „Seelen“ sich ergaben. Die Bauern ihrerseits wußten sich in der wie im Schlafe über sie gekommenen „Freiheit“ gar nicht zurechtzufinden. Dann fanden sie: „Das schmeckt nach mehr“, nämlich zuerst nach mehr Branntwein, und endlich machten sie die sublime Entdeckung, der „Zar-Befreier“ hätte die Aufhebung der Leibeigenschaft eigentlich so verstanden, daß sie, die Bauern, die sämmtlichen Ländereien ihrer bisherigen Herren besitzen sollten, und diese wirkliche und wahrhafte „Emancipation“ würde wider den Willen des Zaren durch die Edelleute und die Beamten hintangehalten. Was den „Tschin“ angeht, so war in allen Graden desselben Korruption und Amt so ganz eins geworden, daß die reformistische Zumuthung, sich fürder nicht mehr bestechen zu lassen, nicht mehr zu betrügen und zu stehlen, sondern fortan nur nach Vorschrift von Recht und Gesetz zu amtiren, der ungeheuern Mehrheit der Tschinowniks vorkommen mußte, wie wenn man den Vögeln zumuthen wollte, nicht mehr zu fliegen, und den Fischen, nicht mehr zu schwimmen.

Man hatte also dem Adel dauerhafte Opferfähigkeit, dem Tschin pflichtbewußte Redlichkeit, der Bauerschaft verständige Selbstbescheidung zugetraut. Das stellte sich bald als eine schlimme Verrechnung heraus. Denn die Summe, welche das willkürliche Rechenexempel ergab, war nur eine allgemein und verstärkt gährende und schwärende Unzuriedenheit. Die Phantastik der Reformer fütterte den Wahnwitz der Revoluzer groß.

Alexanders des Zweiten Wesen und Walten ruft die Erinnerung an Josef den Zweiten wach. Beide waren sie gute Menschen und aufgeklärte, das Beste ihrer Völker redlich wollende und erstrebende Regenten. Beide traten sie auf ein unvorbereitetes Feld, beide waren sie gleich schlecht bedient und unterstützt, beide verfielen sie der Ueberstürzung, beide erfuhren sie den schnödesten Undank, beide endeten sie tragisch, - der eine verzehrt von der Verzweiflung an seinen Idealen, der andere unter brutalen Mörderfäusten. Wo blieb denn da wieder einmal die berühmte „sittliche Weltordnung“, allwovon leichtlebige Optimisten so viel zu sagen und zu singen wissen? Zeugte das etwa von der Wesenheit des genannten Phantoms, daß zwei Menschen, welche fraglos zu den besten gehörten, die jemals Kronen getragen, ein so qualvoller Ausgang beschieden war? Oder besteht die „sittliche Weltordnung“ nur in der Bethätigung der grausam-alttestamentlichen Anschauung, daß der Väter Missethaten an den Kindern und Enkelkindern gerächt werden müßten?




3.

Immerhin waren die 26 Jahre Alexanders des Zweiten für Russland eine Periode großer Thätigkeit im Innern wie nach außen. Großer Erfolge auch, wenigstens nach außen. Denn der Zar erwies sich als ein rechter Mehrer des Reiches, dessen Flächenraum er 30,000 Quadratmeilen, dessen Bewohnerschaft er 30,000,000 neuer Unterthanen hinzufügte. Unter ihm wurde die Unterwerfung der Kaukasusvölker vollendet, das Schwarze Meer wieder zu einem russischen See gemacht, Bessarabien abermals erworben, als Absteigequartier auf dem Wege nach Konstantinopel der russische Vasallenstaat Bulgarien begründet und in Centralasien die Eroberungsfahne bis nahe zu den Thoren Indiens hingetragen.

Im Innern ging die Reform rüstig ins Zeug. Die Finanzen hoben sich dergestalt, daß die Staatseinnahme von 264 Millionen Rubel auf 625 Millionen stieg. Darum konnte für Erziehungs- und Kulturzwecke jetzt siebenmal, für die Rechtspflege fünfmal mehr verwendet werden als unter Nikolai. Zahlreich waren

die Gründungen von Volksschulen, Mittelschulen und Hochschulen. Der neue Zar fand ein russisches Eisenbahnnetz von ungefähr 700 Kilometern vor, er dehnte dasselbe auf den Umfang von 22,643 Kilometern aus. Mittels der großen That seines Lebens, mittels der Beseitigung der Leibeigenschaft, wollte Alexander dem russischen Staatsbau das einzig gesunde und dauerhafte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_014.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2023)