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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

„Knabe!“ rief der Architekt und fuhr ihm erregt in das üppige Haar über der Stirn, indem er das seltsame Kindergesicht zu sich aufhob. „Dir ist Manches erlaubt – aber nicht Alles.“

Da blitzten die Augen des Knaben heftig zu den ernsten, unruhigen Männeraugen über ihm empor.

„Ich will nicht, daß Sie meine Mutter traurig machen,“ stieß Curt hervor.

„Du irrst,“ sagte Arndt, sich entfärbend, und seine Hand zitterte leicht über der Stirn des Kindes. „Du irrst: ich mache Deine Mutter nicht traurig. – Ist sie denn traurig?“

„Ja, seit Sie nicht mehr kommen.“

„Dann sage Deiner Mutter, sie soll es nicht sein! – Sie soll nicht traurig sein um mich.“

Ein außerordentlicher Ernst sprach plötzlich aus dem leidenschaftlichen Blicke des Knaben; wie ein halbes Verständniß mußte es über seine junge Seele gekommen sein.

„Sind Sie denn auch traurig?“ flüsterte er in dem bangen Gefühl, vor einem großen Geheimniß des Menschendaseins zu stehn.

Arndt riß ihn an sich und küßte ihn.

„Geh!“ sagte er erschüttert. „Geh, mein Sohn und laß mich in Frieden!“

„Herr Arndt, was ist Ihnen? Kommen Sie mit! Wir können nicht ohne Sie reisen! Ach, Herr Arndt, Sie und die Mutter – – o, wie ich Sie Beide liebe! Ich möchte – –“

Er schwieg plötzlich, und flehend, mit großen Thränen in den Augen, schmiegte er sich an Arndt’s hohe Gestalt.

„Ich kann nicht, mein geliebter Knabe!“ sagte er hastig. „Aber ich werde morgen, wenn Ihr abreist, auf dem Bahnhofe sein.“

„Auf ein paar Tage – nur auf ein paar Tage, Herr Arndt, kommen Sie in diesen vier Wochen nach Rügen!“

„Ich werde versuchen zu kommen, mein Sohn. Wenn ich aber doch nicht kommen könnte wirst Du dann von Rügen aus einmal an mich schreiben?“

„Sie wissen ja: ich thue immer, was Sie und Mutter wünschen.“

„Also auf Wiedersehen morgen, mein Junge! Auf dem Bahnhofe! Grüß’ Deine Mutter! Adieu!“ – – –

Und am nächsten Morgen war Arndt auf dem Bahnhofe.

Die Locomotive ließ zum zweiten Male ihren häßlich schrillen Pfiff ertönen, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung.

Arndt beeilte sich, den Perron zu verlassen; Henriette hatte sich bereits in eine Ecke des Coupés gedrückt, das sie allein mit ihrem Sohne inne hatte; nur dieser stand noch immer am Fenster und sah zerstreut hinaus.

Als schon eine gute Viertelstunde vergangen war und die letzten Häuser der Vorstadt eben vor den Augen der Reisenden verschwanden, sagte Curt plötzlich, aber immer noch ohne sich umzuwenden.

„Mutter, wie es mir schwer wird, mich von Herrn Arndt zu trennen! Und er ist traurig, Mutter, ich möchte mich nie mehr von ihm trennen. Weißt Du was ich möchte? Weißt Du, Mutter – –?“

„Nun?“ fragte sie gespannt und unruhig.

„Daß er mein Vater wäre!“

Henriette war für den Rest der Reise tief nachdenklich geworden; das Feuer innerer Erregung flammte auf ihren Wangen.




13.

Zwei Wochen waren vergangen, seitdem Arndt auf dem Bahnhofe von Mutter und Sohn Abschied genommen. Da erhielt er folgenden Brief von Curt:

  „Lieber Herr Arndt!

Nicht aus Bummelei oder Schlechtigkeit schreibe ich Ihnen erst heute – mit Schlechtigkeit meine ich, daß ich Sie vergessen hätte – sondern weil ich Ihnen immer etwas Wichtiges erzählen wollte. Es passirt aber weiter nichts, als daß wir alle Nachmittage spazieren gehen.

Auf Jasmund und Mönkgut war kein Quartier mehr; deshalb sind wir hierher ganz nach Norden in die Nähe von Arcona gegangen. Unser Dorf heißt Breege auf der Halbinsel Wittow.

Es ist gar kein Wald hier, und die Natur ist ringsum so einsam, wie es in Liedern und Geschichten manchmal beschrieben wird. In den ersten Tagen kam sie mir immer vor, als wäre sie ein trauriger Mensch, der den Kopf hängen läßt – aber Unsinn! Jetzt kenne ich sie besser. – Na ja, es ist ganz lustig zwischen den grauen Dünen; nur wünscht man sich dieses Jahr so oft – Etwas – – das nicht angeht.

Adieu, Herr Arndt! Ich wollte, o, ich wollte, Sie kämen noch! Sie wissen gar nicht, wie oft ich an Sie denke – wahrhaftig, bei hundert Gelegenheiten! Zweimal habe ich auch schon von Ihnen geträumt, und jeden Tag denke ich, Sie kommen vielleicht doch mit dem Dampfschiffe.

Mutter läßt Sie sehr grüßen.

Ihr treuer und gehorsamer 
Curt Brandenburg.“ 

Am zweiten Abend, nachdem Arndt diesen Brief empfangen hatte, wurde Henrietten von ihrer Wirthin ein Herr gemeldet, der sie zu sprechen wünsche.

„Wer ist es denn?“ fragte sie zögernd und offenbar nicht ganz angenehm überrascht.

„Arndt ist es, der seine Freunde einmal rudern möchte!“ antwortete eine kräftige, wenn auch leise zitternde Stimme, und als Henriette und Curt nach der Thür blickten, sahen sie in ein wohlbekanntes Gesicht, dessen gehaltener Ernst und eigenthümlich erzwungene Ruhe etwas Respect Einflößendes und zugleich etwas Ergreifendes hatten.

Curt stand einen Augenblick wie versteuert.

„Ich wußt’ es. Ich hab’ es die Nacht geträumt,“ stotterte er dann vor sich hin, und als die Wirthin hinaus war, jauchzte er förmlich auf und stürzte auf Arndt zu. Doch plötzlich riß er sich wieder von ihm los und warf einen scheuen Seitenblick auf seine Mutter.

Henriette war befangen, und als sie den Freund mit herzlicher Dankbarkeit für sein Kommen begrüßte, sah sie ihm nicht, wie wohl früher, voll in’s Gesicht.

Arndt erklärte dann, daß er wirklich nur gekommen, um Curt einmal eine ausgedehnte Wasserpartie zu ermöglichen – bei welcher er freilich zu seinem eigenen Besten etwas Seeluft zu schlucken hoffe – und daß er übermorgen schon wieder abreisen werde. Das Gesicht des Knaben strahlte vor Unternehmungslust.

Daß Arndt den Rest des Tages bei Brandenburgs verlebte, war natürlich, und Henriette glaubte mehr und mehr aus seinem Benehmen herausfühlen zu dürfen, daß es ihm jetzt heiliger Ernst sei, ihre Bitte um fortgesetzte, nicht mißzuverstehende Freundschaft zu erfüllen, aber trotzdem nahm ihr Wesen etwas Verschleiertes an. – –

„Hattest Du Herrn Arndt in Deinem Briefe gebeten, zu kommen?“ fragte Henriette später ihren Sohn.

„Nein, gebeten nicht,“ antwortete Curt mit auffallender Kürze, und küßte seiner Mutter so stürmisch die Hand, wie er es sonst nur that, wenn er etwas abzubitten hatte.




14.

Nachdem man am andern Morgen die verabredete Wasserfahrt bei köstlichem Wetter in’s Werk gesetzt, wurde der Nachmittag einem gemeinsamen Spaziergange in die sogenannten „Tannen“ gewidmet.

Die drei Wanderer gingen zunächst auf der von kleinen frisch angepflanzten Birken abgegrenzten Chaussee entlang, welche sich malerisch auf der Höhe des schmalen Landstreifens hinzieht, der die nördliche Halbinsel mit der südlicher gelegenen verbindet und sich zwischen offener See und Bodden, zwischen sanften Dünenketten und dunklem Kieferngehölz dahinschlängelt.

Bot der den ganzen Nachmittag in Anspruch nehmende Spaziergang mittelst der stets wechselnden, wunderbar schönen Landschaftsbilder immer neue Reize, so lieh das Schauspiel des Sonnenuntergangs ihm einen erhebenden, großartigen Abschluß: der hochgespannte Westhimmel, der sich wie eine ununterbrochene Halbkugel über der weiten Ebene von Wasser und Land wölbte, leuchtete in allen Regenbogenfarben über dem goldglühenden Sonnenball, der langsam gegen den Horizont herabsank. In warmem Violett schimmerten jenseits die etwas ansteigenden Küsten der vielzackigen Insel; feurig glänzte der weite Wasserspiegel, und wie

eitel Gold funkelten die Fenster der Breeger Schifferhäuser vom

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_728.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)