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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


No. 43.   1882.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Spätsommer.

Novelle von C. von Sydow
(Fortsetzung.)


„Ja,“ antwortete Henriette, plötzlich zögernd, „Curt sieht mit den Augen der Phantasie; so ist es.“

Und es war, als ob ein ernster Schatten über ihre weiße, faltenlose Stirn zöge, um nicht so schnell wieder zu weichen.

„Diese Augen sind nicht nur gefährlich für den, der sie sieht, sondern auch für den, der sie hat,“ fuhr sie gedankenvoll fort. „Es ist eine kindische Frage – aber sagen Sie mir: Glauben Sie, daß der Knabe einmal glücklich werden wird?“

„Gnädige Frau, was verstehn Sie unter Glück?“ fragte Arndt, „etwa die Summe des Genusses, den der Mensch aus seinen eigenen Kräften und Fähigkeiten zieht? Und auch in diesem Fall,“ setzte er sinnend hinzu, „fragt es sich ja, ob das Schicksal eine normale Ausbildung der innewohnenden Kräfte – also einen ungetrübten Genuß zuläßt.“

„Das Schicksal!“ rief Henriette, und es war, als ob eine geheimnißvolle Leidenschaft die sanfte Ruhe ihres Wesens durchzitterte. „Wissen Sie, ich glaube, die Menschen räumen dem, was sie Schicksal nennen, eine zu große Gewalt über sich und Andere ein.“

„So leugnen Sie dieselbe? Gnädige Frau, verzeihen Sie – es dürfte denn doch ein titanisches Vermessen sein – –“ sagte Arndt scharf accentuirt.

„Gewiß nicht; wie könnte ich die Gewalt des Schicksals leugnen?“ antwortete sie, und es wollte ihm erscheinen, als nähme plötzlich ihr Auge einen feuchten, eigenthümlich schwärmerischen Glanz an. „Ich meine nur, daß nach den meisten Schicksalsfällen noch ein unendlich werthvoller Rest des Lebens bleibt, den man mit etwas gutem Willen für sich und Andere retten und zu einem schönen Ganzen gestalten kann. Und zu diesem guten Willen sollte man frühzeitig den Keim legen. – O, ich meine immer, wenn nur zur rechten Zeit das Rechte geschieht, müßte man es vom Schicksal erzwingen können, daß gewisse Menschen glücklich werden.“

„Sie scheinen das Glück für die vornehmste Lebensbedingung zu halten,“ entgegnete Arndt immer interessirter, „und doch entfaltet sich manche Natur historisch nachweisbar nur im Unglück zu voller Reife.“

„Ich weiß es, aber ich hege doch den leidenschaftlichen sehnlichen Wunsch, daß der Knabe glücklich werde,“ sagte sie leise. Können Sie mir das verdenken?“

Es lag eine große Bewegung in dem Tone ihrer Stimme, als aber Arndt nach einigen Secunden zu ihr aufblickte, lebte in ihren Zügen nichts Trauriges. Bewundernd schweifte ihr Blick über die weite sonnige See und hinauf in den wolkenlasen Himmel.

„Er wird schon glücklich werden,“ sagte sie lebhaft, „denn es giebt nichts Schönes auf der Welt, das er nicht empfände, und nichts Gutes, das er nicht wollte.“

Doch plötzlich schien ihr einzufallen, daß es doch am Ende Arndt langweilen könne, nur immer und immer von dem Knaben reden zu hören. Mit einer Lebhaftigkeit, als habe sie ein wirklich ernstes Versehen wieder gut zu machen, fragte sie jetzt nach seinen Interessen, erkundigte sich nach der beabsichtigten norwegischen Reise und ließ sich noch Manches von den besonderen Verhältnissen seines Berufes erzählen. Dabei wurde vorübergehend auch der Hauptstadt erwähnt, in welcher Beide lebten, und durch die verschiedenartigsten Kunstinteressen, welche dieselbe vertritt, ergab sich stets interessanter neuer Stoff zur Unterhaltung.

Wie anregend diese aber auch immer sein mochte, das Innerste von Henriettens Seele schien doch fortwährend mit dem Knaben beschäftigt zu sein; denn so oft er herangesprungen kam, hatte sie sofort nur Aufmerksamkeit für ihn, und wenn er einmal längere Zeit fern geblieben war, blickte sie sich mitten im Gespräche suchend nach ihm um.

Es war seltsam – sie gehörte eigentlich nicht zu denjenigen Naturen, welche sich auf den ersten Blick begreifen lassen, und doch wurde Arndt, streng genommen, durch nichts an ihr überrascht – vielleicht, weil er von vornherein gewußt hatte, daß sie eine ungewöhnliche Frau sei und daß er jede Stunde etwas Neues an ihr entdecken würde.

Der Abend war schon vorgeschritten, als man sich, vom Spaziergange zurückkehrend, trennte, und Arndt war sehr zufrieden mit dem Inhalte des verlebten Abends: er hatte sich heute noch länger und eingehender mit ihr unterhalten, als es gestern bei der Ruderpartie hätte der Fall sein können.

Mit eigenthümlichem Interesse bemerkte er im Verkehr der folgenden Tage, wie selbst die Gestalten der beiden originellen Schwestern ohne Weiteres vor Henrietten in den Hintergrund traten. Mochte es von Adelheid's Seite ein fanatisches Freundschaftsbedürfniß sein, nur eine Folie für Henriette abzugeben, so lag ein derartiger Cultus durchaus nicht in Augustens Natur, und doch schien auch sie ihren hellen Verstand und schlagfertigen Mutterwitz in der Gegenwart der Freundin nur Funken sprühen zu lassen, damit diese die Flamme ihres Geistes daran entzünden und leuchten lassen könne.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 709. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_709.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)