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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

ein Material für seine Armee erwachsen würde, das unsererseits alle Aufmerksamkeit und Beachtung verdiente.

Deutschland ist glücklicher Weise in Betreff der Turnfrage Frankreich weit voraus. Durch die Thätigkeit der seit mehr als einem Menschenalter über unser ganzes Vaterland sich ausbreitenden Turnvereine, die leider bis zur Stunde von den deutschen Regierungen so gut wie gar keine aufmunternde Unterstützung erhalten haben, hat sich in vielen Gauen ein gewisses Verständniß für die Pflege der Leibesübungen verbreitet, sodaß die Einführung des Turnunterrichts in den Schulen vielerorts einen bereits vorbereiteten Boden fand.

In vielen Provinzen Deutschlands ist schon seit Jahren der obligatorische Turnunterricht eine vollendete Thatsache; für die weitere Entwickelung der Turnsache steht eine zahlreiche und wohlgeschulte Turnlehrerschaft in Wirksamkeit, und eine reichhaltige Turnliteratur hat jede Buchhandlung zur Verfügung. So werden Jahrzehnte vergehen, bevor Frankreich bei allem Eifer, den es jetzt bei Einführung des Turnunterrichts zur Schau trägt, unsern jetzigen Standpunkt im Turnen erreichen wird.

Einige Vertreter der deutschen Presse sind im Hinblick auf jene französische Spielerei so weit gegangen, zu behaupten, „die turnerische Ausbildung werde die militärische Exercirausbildung weder ersetzen noch überflüssig machen können.“

So absprechend für das Turnen dieses Urtheil lautet, so unbegründet ist es. Richtig ist an demselben nur, daß jeder zum Militär ausgehobene Turner sich das specifisch Militärische, wie z. B. das Verständniß für die Bedeutung der Abzeichen, der Befehle, der Gewehrgriffe, der Marschbewegungen, in einer besonderen Recrutenzeit anzueignen hat. Dasselbe würde aber auch der Fall bei allen denen sein, die sich einer wirklichen militärischen Erziehung erfreuten; denn es ist kaum vorauszusehen, daß bei solchen die Militärbehörde von einer Lehrzeit absehen dürfte, da ohne allen Zweifel die einheitliche militärische Ausbildung der aus den verschiedensten Gegenden in ein Regiment Eintretenden immer etwas zu wünschen übrig lassen würde. Gern kann man zugeben, daß in diesem Falle für die Recrutenausbildung eine kürzere Dauer nöthig und die Arbeit selber für die Exercirmeister leichter sein werde als zur Zeit. Diesem vermeintlichen Vortheile steht aber die seit vielen Jahren so oft und in den verschiedensten Gegenden beobachtete Thatsache gegenüber, daß gute Turner sich mit der größten Leichtigkeit in die militärischen Exercitien hineinfinden. „Turnerisch vorgebildete Soldaten haben an das specifisch Militärische etwa so viel Mühe zu verwenden, wie ein schon ausgebildeter Soldat braucht, ein neues Reglement kennen zu lernen.“ (Dr. F. A. Lange: „Die Leibesübungen“.)

Es ist diese Erscheinung die natürliche Folge davon, daß auf den Turnplätzen complicirtere Ordnungsübungen getrieben werden, als die militärisch-taktischen Uebungen an sich sind, und daß zu zusammengesetzten Frei-Uebungen und zu den meisten Geräthübungen eine größere körperliche Ausbildung nöthig ist, als zur Erlernung der verhältnißmäßig einfachen Gewehrübungen. Die sogenannte militärische Jugendausbildung hat daher in der angedeuteten Richtung der turnerischen gegenüber gar nichts voraus. Dagegen bietet diese für die Wehrhaftmachung des Volkes so große Vortheile, wie sie durch jene gar nicht zu ersetzen sind. Nur in kurzen Worten möge dies noch dargethan werden.

Die Aufgabe des Turnens ist die harmonische Durchbildung des ganzen Körpers; daher findet bei demselben denn auch die ganze Bewegungsanlage des Menschen durch entsprechende Uebungen eine verhältnißmäßige Berücksichtigung. Kräftig und gewandt soll sich der Einzelne durch die turnerischen Uebungen machen, und in welch hohem Grade dies zu ermöglichen, bedarf wohl zur Zeit keiner Erörterung mehr. Viele Uebungen sind weiter so geartet, daß sie direct der Ausbildung von Entschlossenheit und Muth Vorschub leisten, daß sie die Behendigkeit und Schnelligkeit des Uebenden fördern, seine Ausdauer und Anstelligkeit erhöhen. Weiter ist es eine bekannte Thatsache, daß durch turnerische Leibesübungen die Widerstandsfähigkeit des Körpers gegen Krankheiten und Witterungseinflüsse bedeutend erhöht wird. Diese aus dem Turnen sich ergebenden Vortheile machen aber gleichzeitig die Haupttugenden des tüchtigen Wehrmannes aus. Turnen und Wehrtüchtigkeit sind daher auf das Engste mit einander verschwistert.

Das Material des Turnens ist von einem solchen Umfange, von einer so großen Vielgestaltigkeit, daß für den Strebsamen des Lernens kein Ende ist. Das ist es, was das Turnen nicht zum Ueberdruß werden läßt, was immer neue Reize bietet. Diese hier mur kurz angedeutete Allseitigkeit einer turnerischen Erziehung läßt sich gar nicht mit der sogenannten militärischen, die bekanntlich ihren Schwerpunkt auf die Einübung einiger Marschformen, einiger Ordnungsübungen und Gewehrgriffe legt, vergleichen. Wer nur einigermaßen Kenntniß von dem hat, was man zur Zeit unter der Durchbildung des Körpers versteht, und wer weiß, welche Mittel man zur Erreichung dieses Zieles anwendet, der wird nicht einen Augenblick in Zweifel darüber sein, daß unsere Jugendbildung bezüglich der leiblichen Ausbildung den richtigen Weg betreten hat, und dem wird es nie beikommen, der sogenannten „militärischen Jugenderziehung“, die schließlich doch in nichts Anderem gipfelt, als im sogenannten „Soldatenspielen“, ein Wort der Anerkennung zu schenken, mögen auch die Paraden der französischen Jugendwehren noch so prunkend ausfallen, mag ihr Lob auch weithin erschallen.

Dagegen ist in ernste Erwägung zu ziehen, ob unsere bisherigen Veranstaltungen zu tüchtiger turnerischer Erziehung der Jugend auch genügen. Leider muß man bekennen, daß wir, trotz des erwähnten Vorsprungs vor den Franzosen, noch lange nicht auf einem Standpunkte stehen, der dem Ideale nahe käme.

Der Turnunterricht ist noch lange nicht in alle deutschen Schulgemeinden eingeführt. Ferner sind nicht selten da, wo jetzt schon geturnt wird, die Unterrichtseinrichtungen von großer Dürftigkeit; auch wird an vielen Orten nur in den Sommermonaten geturnt; endlich werden in den allermeisten Fällen nur zwei Stunden wöchentlich für den Turnunterricht angesetzt, während doch die Sorge für die Gesundheit des Einzelnen, für die Wohlfahrt des Volkes zu der Forderung drängt, bei der Jugenderziehung den Leibesübungen jeden Tag eine Stunde zu widmen. Daß die Erfüllung dieser Forderung nicht unmöglich ist, dafür liefert das so hochcultivirte Volk des Alterthums, die Griechen, einen thatsächlichen Beweis; in den altgriechischen Unterrichtsanstalten hatten die Zöglinge täglich auch Leibesübungen zu betreiben.

Auf dem Gebiete der Schule ist daher betreffs der Leibespflege noch ein großes Feld zu bestellen, und wenn hier deutscherseits nicht in einem rascheren Tempo vorgeschritten wird, so kann es sich ereignen, daß die Franzosen bei ihrem jetzigen Eifer uns einholen, ja sogar überholen. Es seien deshalb alle Die, welche durch die Parade der Pariser Jugendwehr stutzig geworden, auf das ernstlichste eingeladen, mit allen Kräften für eine durchgreifendere turnerische Erziehung unserer Schuljugend einzutreten.

Wohl verdienen die deutschen Turnvereine alles Lob, daß sie bisher den Jünglingen bequeme Gelegenheit geboten haben, ihren Körper zu üben und zu stählen. Leider ist es jedoch nur ein ganz kleiner Procentsatz der deutschen Jünglinge und Männer, welche die Vereinsturnplätze besuchen.

Nach der letzten Statistik vom 1. Januar dieses Jahres haben 1881 von den 42 Millionen Einwohnern des deutschen Reiches in nicht mehr als 2067 Orten nur 108,032 Mann geturnt. Dies ist ein Ergebniß, das im Interesse unserer Nation auf das Tiefste beklagt werden muß, weil es offen darlegt, wie wenig noch bei uns auf die Pflege und Ausbildung des Körpers gegeben wird. Nicht blos der Einzelne, der sich dieser Ausbildung entzieht, leidet darunter, sondern die ganze Nation, indem ein großer Theil der dem deutschen Volke innewohnenden Anlagen sowohl für gewerbliche Zwecke wie auch für die Wehrtüchtigkeit unausgebildet und daher unbenutzt bleibt. Hier muß im Interesse der Allgemeinheit Wandel geschaffen werden.

Wie sehr der Staat bei der geltenden allgemeinen Wehrpflicht interessirt ist, jederzeit ein tüchtiges Aushebungsmaterial zur Hand zu haben, und wie ein solches durch eine langjährige turnerische Uebung zu erlangen ist, bedarf nicht mehr der Begründung. Daher sind Mittel und Wege zu schaffen, die dahin führen, daß die Jugend nicht blos während der Schulzeit, sondern auch nach derselben bis wenigstens zur Recrutirung regelmäßig Leibesübungen treibt. Mit einem Schlage könnte man nach dieser Richtung hin Großes erreichen, wenn gesetzlich vorgeschrieben würde, daß Jeder, der sich ein gewisses Maß körperlicher Durchbildung angeeignet hat, eine kürzere active Militärdienstzeit sich erwerben kann. Von Stund an würden die Turnplätze überfüllt sein; man würde regelmäßig üben, um seiner Zeit den gestellten Ansprüchen zu genügen. Ohne alle Kosten würde alsdann der Staat für

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_610.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2023)