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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Unter den bildungsunfähigen Idioten werden diejenigen verstanden, bei denen wir in der Hauptsache nur von einem Triebleben reden können, die z. B. eine ihnen vorgemachte Bewegung der Beine, Arme, Hände nicht nachzuahmen verstehen, auch nicht im Stande sind, sich die Anfänge des Elementarunterrichts anzueignen und nach alledem nicht die geringste Aussicht bieten, einigermaßen zur Selbstständigkeit zu gelangen. Das sind die wirklich Blödsinnigen, die Voll-Idioten.

Eine wesentlich höhere Stufe nehmen ihre bildungsfähigen Leidensgenossen ein: sie zeigen in der Regel dieselbe Empfänglichkeit für Sinneseindrücke, wie der geistig normale Mensch, aber es fehlt ihnen die Kraft, diese Eindrücke in demselben Maße wie jener festzuhalten. Der bildungsfähige Idiot hat den Charakter der Vernünftigkeit; seinem Wollen und Handeln können sittliche und religiöse Motive zu Grunde liegen, aber alles, was er denkt und thut, geschieht bei ihm viel langsamer, als bei dem geistig Gesunden. Bei ihm strebt die gehemmte psychische Entwickelung mit der fortschreitenden körperlichen Entfaltung einer gewissen Ausgleichung zu. Er ist unterrichts-, weil entwickelungsfähig, während der Blödsinnige nur als gewöhnungs- und höchstens beschäftigungsfähig bezeichnet werden kann. Bei dem Schwachsinnigen liegt der Schwerpunkt seiner Behandlung in der Erziehung und Bildung, bei dem Blödsinnigen in der Pflege und Beschäftigung.

Je nachdem nun eine Anstalt sich mit diesen oder jenen Zöglingen beschäftigt, ist sie entweder eine Erziehungs- oder eine Pflege-Anstalt. Die größeren Institute Deutschlands vereinigen in sich beide Richtungen, während die kleineren entweder nur Erziehungs- oder Pflege-Anstalten sind.

Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß die Pflege-Anstalt ein anderes Bild bieten muß als die Erziehungsanstalt. Während wir in der letzteren meist körperlich gesunden Kindern begegnen, treffen wir in der ersteren verhältnißmäßig viele mit körperlichen Gebrechen an. Die Zöglinge der Erziehungsanstalt verstehen, was wir zu ihnen sagen, sind mehr oder weniger selbst der Sprache mächtig, und wir können uns mit ihnen unterhalten; in der Pflege-Anstalt giebt es dagegen immer eine Anzahl solcher Kinder, über deren Lippen noch nie ein Wort gekommen ist und voraussichtlich auch keines kommen wird; einige starren theilnahmlos vor sich hin; andere schwatzen und sprechen zu uns unaufhörlich ein und dasselbe.

Da ferner unter den Idioten die Epilepsie häufiger auftritt, als unter geistig Gesunden, so trifft man in jenen Anstalten oft auch Epileptiker an. Einige deutsche Anstalten schließen diese Art Leidende mit Rücksicht auf die übrigen Zöglinge aus; in anderen bestehen besondere Abtheilungen für Epileptische.

Welche Aufgabe aber stellt sich nun die Erziehungsanstalt für Schwachsinnige? Sie erstrebt dasselbe, was die Volksschule als ihr Ziel ansieht; denn sie will ihren Zöglingen die Grundlagen sittlich-religiöser Bildung und diejenigen Kenntnisse und Fertigkeiten verschaffen, welche für das Leben nöthig sind. So hoch auch dieses Ziel schwachsinnigen Kindern gegenüber erscheinen mag, so hat doch die Erfahrung gelehrt, daß es in vielen Fällen möglich gewesen ist, dasselbe zu erreichen. Natürlich aber setzt diese Erfüllung des angegebenen Zweckes die Erfüllung gewisser Bedingungen voraus, von denen hier ganz besonders eine betont werden muß: da die Volksschule zur Erreichung ihres Zieles fast allgemein einen achtjährigen Schulbesuch fordert, so bedarf die Erziehungsanstalt für Schwachsinnige natürlich mindestens die gleiche Zeit zur Lösung ihrer Aufgabe. Es liegt deshalb im Interesse eines schwachsinnigen Kindes, daß es der Anstalt möglichst frühzeitig übergeben und so lange in derselben belassen werde, bis das Anstaltsziel an ihm, soweit dies möglich erscheint, erreicht ist. Ein Blick in irgend eine Idiotenschule wird die Nothwendigkeit dieser Forderung bestätigen: überall werden diejenigen Zöglinge als der Norm am nächsten stehend erscheinen, welche der Anstalt möglichst jung zugeführt wurden. Die meisten Institute nehmen deshalb auch schon fünfjährige, ja nicht selten noch jüngere Kinder auf, natürlich nicht, um dieselben schon in aller Form zu unterrichten – das kann ja oft vor dem siebenten oder achten Jahre nicht geschehen – sondern um sie in geeigneter Weise, besonders in physischer Hinsicht, zu erziehen und nach und nach für den Unterricht vorzubereiten.

Da eine methodische Einwirkung auf die geistige Entwickelung der Schwachsinnigen einen gewissen Grad körperlicher Kräftigung voraussetzt, so gilt das erste und dringlichste Bemühen der Anstalt der körperlichen Erziehung. Selbstverständlich ist, daß das Institut eine gesunde Lage haben muß und daß seine Wohn-, Unterrichts-, Schlaf- und Beschäftigungsräume allen sanitären Anforderungen zu entsprechen haben. Ebenso unerläßlich erscheint ein geräumiger Hof und Garten mit Turn- und Spielplätzen und eine entsprechende Vorrichtung zum Baden. Eine wichtige Stellung nehmen die gymnastischen Uebungen ein; sie treten hier aber nicht nur als tägliche Lectionen auf, sondern es werden mit ihnen auch vielfach die Pausen zwischen den Unterrichtsstunden und die freien Stunden überhaupt ausgefüllt. In fast allen Lehr- und Pflegestätten Deutschlands werden besonders die Fröbel’schen Glieder- und Bewegungsspiele geübt.

Die Unterrichtsgegenstände der Anstalt für Schwachsinnige sind im Allgemeinen dieselben, wie die der Volksschule, und wenn auch in einigen Disciplinen eine Beschränkung des Stoffes eintreten muß, so kommt es doch nicht selten vor, daß die besseren Zöglinge bei ihrer Entlassung aus der Anstalt im Wissen und Können manchen Schülern der Volksschule gleichstehen. Ja wir haben sogar erlebt, daß diese von jenen übertroffen wurden; freilich gehörten solche Fälle zu den Ausnahmen, und obgleich es vorkommt, daß Schwachsinnige nach einzelnen Richtungen hin, z. B. für Musik, besondere Neigung und Begabung zeigen, so ist ihnen doch selbstverständlich die künstlerische oder wissenschaftliche Laufbahn verschlossen. Dagegen gilt es, sie, wenn irgend möglich, zu tüchtigen, für das Leben brauchbaren Menschen heranzubilden.

Wir finden deshalb in fast allen Instituten die Einrichtung, daß die Zöglinge zu verschiedenen Beschäftigungen angeleitet werden. Bei den Mädchen sind es vorzugsweise die weiblichen Handarbeiten und die Geschäfte des Haushaltes, die hierzu ein geeignetes Arbeitsfeld darbieten; dazu kommen aber an manchen Orten noch andere Beschäftigungen, wie Weben, Wirken, Zwirnen etc., während die Knaben mit landwirthschaftlichen Arbeiten oder in besondern Werkstätten beschäftigt werden. Aber „Eines schickt sich nicht für Alle“ – und deshalb hat jede einzelne Anstalt immer mehrere Arbeiten in ihren Erziehungsplan aufgenommen, sodaß sie sowohl die Individualität wie die gesellschaftliche Stellung der einzelnen Zöglinge zu berücksichtigen vermag.

Wollte man nach dem Gesagten annehmen, es gingen aus der Schule fertige Handwerker etc. hervor, so wäre dies ein Irrthum; denn von einer wirklichen Erlernung eines Berufes kann dort nicht die Rede sein. Der Zögling soll, sobald er sich den nöthigen Grad intellectueller und sittlicher Reife erworben, die Anstalt verlassen und seine berufliche Ausbildung da vollenden, wo sie der Lehrling mit normaler Veranlagung sucht und findet. Allerdings wird es nicht selten schwierig sein, für den schwachsinnigen Knaben einen geeigneten Lehrmeister zu finden, die Erfahrung aber hat gelehrt, daß der soeben angegebene Weg der rechte war; denn die Lehrlingsjahre sind für den Zögling zugleich der nothwendige Uebergang aus der Schule zu der zu erringenden Stellung in der Gesellschaft. Man kann sich deshalb auch nicht erwärmen für Errichtung besonderer, mit dem Institut verbundener „Lehrlingswerkstätten“, dagegen werden von allen Seiten „Asyle“ für solche Zöglinge gefordert, welche es wohl bis zu einem gewissen Grade von geistiger und mechanischer Ausbildung gebracht haben, selbstständig jedoch nie werden und aus irgend einem Grunde auch nicht zu den Ihrigen zurückkehren können. Mehrere deutsche Schulen für Schwachsinnige besitzen bereits solche Asyle oder „Beschäftigungsanstalten“; andere streben die Einrichtung derselben an.

Wie aber das Bedürfniß an Asylen ein dringendes ist, so bleibt auch eine Vermehrung der Erziehungsanstalten noch zu wünschen; denn wenn auch in Deutschland gegen 5000 Blöd- und Schwachsinnige im Genusse einer ihrem Wesen entsprechenden Behandlung und Erziehung sind, so giebt es doch auch hier noch eine weit größere Anzahl, welche diese Wohlthat entbehren muß, weil die bestehenden Lehr- und Pflegestätten nicht ausreichen.

Da sich namentlich in größeren Städten viele schwachsinnige Kinder vorfinden, so hat man angefangen hier und da besondere Classen und Schulen für Schwachsinnige einzurichten, wie dies unter Anderen Taubstummenlehrer Stötzner in der bereits 1864 erschienenen Schrift „Schulen für schwachbefähigte Kinder“, Professor Bock in der „Gartenlaube“, Jahrgang 1870, Seite 71 in dem Artikel „Schulkindkrankheiten oder Schulkrankheiten“ und neuerdings auch die Stuttgarter Conferenz angestrebt haben.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_583.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2023)