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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)


an die meinen, welche leben, und will für ihr Glück einstehen. Der Lebenden Recht geht über das der Todten. Weshalb sagten Sie mir das nicht – vertrauten Sie mir nicht, daß ich begreifen würde, wie Recht Sie haben?“

Leonhard zog einen Stuhl herbei und, sich neben ihr niedersetzend, ihre Hand in die seine nehmend, antwortete er eifrig:

„Weshalb ich Ihnen das nicht sagte, Regine? Weil ich überhaupt Ihren Entschluß nicht mit Gründen bekämpfen, nicht mit Ihnen streiten wollte, und weil ich das Vertrauen zu Ihnen hatte, daß Sie ganz von selbst von einem unvernünftigen Entschlusse zurückkommen würden. Sobald Sie nur erst einmal hierher gekommen, Ihren guten Oheim kennen gelernt und eine Ahnung von der Zukunft in Ihnen aufgestiegen wäre, welche Ihr Erbgut bedrohte, wenn Sie darauf beharrten, sich einer heiligen Pflicht zu entziehen …“

„Einer Pflicht …? Darin kann ich Ihnen nicht Recht geben …“

„Doch, einer Pflicht! Der Mensch sei ‚edel, hülfreich und gut!‘; er darf also die Mittel, die sich ihm bieten, es zu sein, nicht fortwerfen; er darf es nicht. Welch ein thörichter, dummer Arzt wäre ich, wenn ich vor meinen Krankenbesuchen am Morgen damit begönne, meine Instrumente zu zerbrechen! Das ist Eines. Und ein Anderes ist, daß es alte ererbte, durch die Zeit gewebte Bande giebt, welche wir nicht einfach zerreißen dürfen, als wären wir Kinder der Stunde und unsere Stimmungen dürften souverain über unsere Entschlüsse entscheiden. Solche Bande sind die Beziehungen zu dem seit Generationen den Unseren gehörenden Boden und zu Denen, die mit diesem Boden zusammenhängen. Ist da stets Gutes gewirkt und geschaffen, so haben wir die moralische Verpflichtung, die Tradition des Guten lebendig zu erhalten und sie fortzusetzen. Ist da Böses geschehen, hat Schlimmes da gehaust, so haben wir es zu sühnen … Der Mensch ist innerlich ein Geschöpf seiner Geschichte, und um in Harmonie mit sich zu bleiben, soll er auch die Verantwortlichkeit für die Gestaltung seiner äußeren Geschichte nicht abwerfen wollen. Und das Alles – ich wußte es ja – würden Sie schon von selber einsehen. Was bedurfte es meiner Reden, die Ihnen nur das Verdienst geschmälert hätten, im richtigen Augenblick richtig zu handeln – aus der eigenen Erkenntniß, dem eigenen Gefühl heraus.“

„Aber Sie sahen doch, Leonhard, daß zu solcher Erkenntniß meine ‚rechtwinklige Natur‘ nicht reichte … bis fremde Lippen mir einen Aufschluß gaben. Sie hätten mir wenigstens doch sagen können …“ setzte sie weich hinzu, „nur einmal recht herzlich sagen …“

„Was? Daß ich Sie liebte, Sie, nicht dieses viel besprochene Erbe? Daß ich Sie liebte von dem Augenblicke an, wo uns der Zufall zusammenführte, der Zufall und nicht eine berechnende Absicht, ja, daß ich Sie liebte in dem Momente, wo ich Sie zuerst sah und mit Ihnen sprach? Nein, Regine, das durfte ich Ihnen nicht erst sagen. Das wäre meiner unwürdig gewesen. Sie mußten es glauben, fühlen, wissen, ohne daß ich sprach.“

„Stolzer Römer!“ sagte Regine scherzend. „Also in Allem wollen Sie Recht behalten?“

„O nein, nein,“ rief Leonhard lebhaft aus. „Ich habe so über nichts gestritten und will in Nichts Recht behalten. Das Recht, Regine,“ fügte er lächelnd hinzu, „ist Ihre Domäne – Sie haben nun gesehen, wohin man mit dem Rechte kommt. Man kann ein glänzendes Erbe und mit ihm das Glück Vieler damit zu Nichte machen; man kann einen armen alten Mann damit in seiner Hülflosigkeit allein lassen; man kann ein treues Herz voll aufrichtiger Leidenschaft damit von sich stoßen … und am Ende …“

„Gelangt man,“ fiel Regine mit hellen Thränen an den Wimpern und einem zärtlichen Blicke in Leonhard’s Züge ein, „am Ende, wollen Sie sagen, gelangt man damit in die tiefsten Waldgründe der Verirrung und verrenkt sich den Fuß … o Leonhard, ich will nie mehr Recht haben – das soll meine Buße sein – nur noch Deine Liebe will ich, nichts als sie.“

„Ueber alles Recht geht Liebe, über allen Zauber Liebe,“ sagte er, einen Kuß auf ihre Stirn drückend.




Für den guten alten Herrn sollte der Tag, der so stürmisch begonnen, mit einer neuen Aufregung enden – aber einer Aufregung so freudiger Natur, daß sie bald all den üblen Nachwirkungen ein Ende machte, welche die Erschütterungen des Morgens für ihn gehabt hatten. Aus der apathischen, beunruhigenden Schwäche, in welcher er in seinem Lehnstuhl lag, riß ihn die Nachricht, welche ihm an Nachmittage Leonhard brachte, empor, die Nachricht, daß Regine zurückgekehrt sei, um ihn nie mehr zu verlassen; diese Kunde erregte ihn so fröhlich, daß er nicht eher ruhte, als bis ihm Leonhard den Willen gethan, mit ihm den nicht kurzen Weg zum Försterhause zu machen, wo Regine für die nächsten Tage unter der Pflege von Leonhard’s Mutter bleiben sollte. Wie neu belebt, legte er tapfer den Weg zurück; und dann saß der alte Herr an Reginens Lager und ließ sich das Abenteuer, welches sie überstanden, erzählen – und endlich zeigte er einen an ihm völlig neuen Willensaufschwung und kündigte Entschlüsse an, wie man sie ihm gar nicht mehr zugetraut hätte. Es war eine Freude, ihn reden zu hören, so energisch sprach er sich aus unter dem Eindruck des Zornes, der endlich über Alles das, was man sich um ihn her erlaubt hatte, die weite tiefe Schale seiner Geduld überfließen gemacht. Eine Freude für Alle war es, nur nicht für Andreas, der ihm zum Försterhause hatte folgen müssen, und der sich jetzt zum Executor seines souveränen Willens ernannt sah. Nicht, daß Andreas nicht auch ein inneres Behagen dabei empfunden! Im Gegentheil, sein altes Herz schlug stürmisch dabei auf. Aber daß er nun dem Rentmeister Benning einen Bogen weißen Papieres überbringen mußte, auf welchem der alte Herr zu oberst die wenigen Worte mit seiner zitterigen Hand geschrieben hatte: „Meiner Nichte Regine Horstmar habe ich von heute an die ausschließliche Führung meiner Verwaltungsangelegenheiten übertragen, uneingeschränkt und in allen Dingen, wonach Sie sich zu richten haben …“ und daß Andreas dann gehen und der Frau Generalin andeuten sollte, wie der Herr Baron als Wohnung für Fräulein Horstmar die von der Frau Generalin bislang benutzten Zimmer zu bestimmen geruht habe – das waren sicherlich keine angenehmen Aufträge für Andreas.

Doch er ging und gehorchte. Als der alte Herr dann am Abend wieder in seinen vier Wänden war – zur Rückkehr hatte er nun doch seinen Wagen vom Hofe kommen lassen müssen – konnte ihm Andreas auch berichten, daß es ihm bei der Generalin besser ergangen, als er zu hoffen gewagt: er hatte die gestrenge Dame bereits eifrig mit dem Einpacken beschäftigt gefunden; der Wagen, der sie und Sergius fortführen sollte, sei auf die früheste Frühe des nächsten Morgens bestellt worden.

Mit solcher Eile abzureisen, war der Familie von Ramsfeld nun freilich nicht möglich – Damian’s Verwundung wegen. Auch stellte sich in den nächsten Tagen mit ihr ein ganz leidliches Einvernehmen her. Dora war dem alten Herrn immer „sympathisch“ gewesen, und was Frau von Ramsfeld anging, so war sie im Grunde eine gute Seele und eine leichtlebige Natur, die sich in unabänderliche Dinge zu finden wußte. Es kam, um sie zu trösten, hinzu, daß einige längere Unterredungen zwischen ihr und Dora, zwischen Leonhard und Edwin und Beider Müttern einen erfreulichen Erfolg ergaben und daß sie endlich, als sie mit ihren Kindern abreiste, mit einer guten Aussicht in die Zukunft, was Dora’s Glück und Versorgung betraf, scheiden konnte. Es war verabredet worden, daß Edwin in der geregelten Weise seine Studien fortsetzen, sein Examen ablegen und darauf als seines Vaters Adjunct angestellt werden sollte. Wenn die beiden jungen Leute dann noch mit derselben Innigkeit, wie jetzt, ihre verliebten Herzen zu einander gezogen fühlten, stand ihrer Verbindung kein Hinderniß entgegen. Für Dora’s Aussteuer würde gern der alte Herr sorgen, wie er Frau von Ramsfeld beim Abschiede erklärte; auch gab er ihr bereitwillig die Zusage seiner Beihülfe, falls sie dieser bedürfen werde, um Damian in irgend eine geregelte Laufbahn zu bringen. – –

Leonhard und Regine sind heute vermählt und leben auf Dortenbach, die letzten Tage des alten Herrn verlängernd und verschönernd. Er ist schwach, sehr schwach, aber schmerzlos und heiter; er ist so gut, und der gute Mensch bedarf so wenig, um sich glücklich zu fühlen. Leonhard hat sein Recht, daß Regine ihm in die Stadt seiner Wirksamkeit folge, wo ihm Ruhm und Ehren geblüht haben würden, der Liebe geopfert, der Liebe für sie, die nun mit wachsender Innigkeit an dem alten Oheim, an dem schönen Stammsitz ihrer Familie, an dem Wohl und Wehe ihrer von ihr abhängigen Umgebung hängt, der Liebe auch für sein der ärztlichen Pflege so oft bedürftiges und früher von ihr ganz verlassenes armes Landvolk.


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