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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Mancher Verbesserung bedurfte es noch, ehe die Kunst des Grubenschießens zur heutigen Vollendung gelangte, aber in dieser Gestalt trat sie alsdann mit all ihrer Macht in den Dienst der Cultur. Die anfangs in den Ebenen und auf bequemem Terrain sich entwickelnden Eisenbahnen erweiterten ihre Netze von Jahr zu Jahr, stiegen allmählich höher die Thallehnen hinan und standen endlich vor den verschlossenen Bergen. Da kroch der Pixenmeister wieder aus seinem Stollen und trat in den Sold des Eisenbahningenieurs, wie er vor Jahrhunderten in dem der Kriegsherren gestanden hatte. Da hallten die Berge wieder von Tausenden von Schüssen; himmelhohe Felswände fielen, und tiefe Einschnitte drangen in den Boden. Aber auch damit war es nicht genug. Die Canaltunnel des Alterthums wurden der Eisenbahn zum Modelle; die Zahl der großen Eisenbahntunnel mehrte sich erstaunlich, und bald war kein Berg zu hoch, um nicht durchbohrt zu werden. Die Kräfte wuchsen mit den Zielen, und auch als die Unternehmungslust unserer Tage vor dem mit ewigem Schnee bedeckten St. Gotthard stand, blieb sie ihrer Sache sicher, baute auf die Fortschritte der Kunst und erhoffte zuversichtlich ein glückliches Gelingen. – Louis Favre[WS 1] hieß der kühne Mann, der es unternehmen wollte, das große Werk in acht Jahren, um ein volles Jahr rascher, als alle seine Concurrenten, und noch dazu um fünfzehn Millionen Franken billiger auszuführen – eines Zimmermannes Sohn und selbst ein bloßer Zimmermann. Er war in der Genfer Gegend geboren worden, hatte sein Handwerk tüchtig erlernt, und war dann im Jahre 1853, siebenundzwanzig Jahre alt, nach Frankreich gegangen, wo er anfänglich größere Zimmerwerke, Dachconstructionen u. dergl. ausführte, später aber auch ganze Bahnstrecken zur Ausführung übernahm. Hierbei lernte er den Tunnelbau kennen, und bereits 1855 führte er für französische Eisenbahnen Tunnelbauten aus; auch um die Ausführung des Mont Cenistunnels bewarb er sich, wenn auch vergeblich.

Ansichten von der Gotthardbahn: Göschenen mit der alten Brücke.
Originalzeichnung von J. Nieriker.

Bei heutigen großen Bau-Unternehmungen ist es zumeist nicht der Unternehmer, dessen nach der glücklichen Vollendung dankbar gedacht wird, sondern vielmehr der Erdenker derselben; nicht den Maurer- oder Steinmetzmeister feiert man, sondern den Architekten, der das Werk ersann. Nur bei Tunnelbauten ist es anders – und mit Recht; denn wenn es auch wohl seine Schwierigkeiten hat, eine Tunnellinie so zu projectiren, daß sie allen Anforderungen genügt, so ist das doch noch immer verhältnißmäßig kinderleicht im Vergleich mit der Aufgabe, das Loch zu bohren; denn jede Gebirgsart erfordert hierbei eine andere Behandlungsweise; die Beschaffung der nöthigen Maschinenkraft in diesen schwer zugänglichen Höhen macht die größten Schwierigkeiten, und selbst die Heranziehung und Zusammenhaltung des nöthigen Arbeiterpersonals ist keine leichte Aufgabe, ganz abgesehen von den Erschwernissen, unter denen für ein derartiges, dem Ausgange nach so zweifelhaftes Unternehmen das nöthige Capital aufzufinden und stets flüssig zu erhalten ist – wahrlich eine Reihe von Schwierigkeiten, denen nur ungewöhnliche Naturen gewachsen sein[WS 2] können. Louis Favre war eine solche ungewöhnliche Natur. Er hatte das Temperament der Genfer: er war Euthusiast, aber zugleich voll zäher, unbesiegbarer Ausdauer dem einmal begonnenen Werke gegenüber.

Die Schwierigkeiten blieben nicht aus; sie kamen sogar in nicht geahnter Fülle: der Stollen am Südende des Tunnels hatte sehr unter starkem Wassereindrange zu leiden, und am nördlichen Stollen zeigte sich eine an hundert Schritte lange Strecke, wo der Fels trotz steter Ausbesserungen in fortwährender Bewegung blieb, wo er die Zimmerung und selbst das Gerölle zerdrückte. Krankheiten zeigten sich bei den Arbeitern, und man glaubte bei einer großen Zahl derselben einen Eingeweidewurm gefunden zu haben, welcher die Leute blutleer, melancholisch und unlustig zur Arbeit machte; Unruhen brachen aus; Militär mußte einschreiten. Große Unfälle ereigneten sich. Dynamitlager explodirten, und Hunderte von Arbeitern kamen bei unzeitig erfolgten Minenentzündungen um oder wurden im Dunkel des Tunnels von den Förderwagen überfahren oder von losbröckelnden Felsstücken erschlagen.

Auch finanzielle Verwickelungen blieben nicht aus; ja die Gotthardbahngesellschaft selbst kam in Geldverlegenheiten, welche ungünstig auf die Unternehmung wirken mußten; endlich gab es

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Louis Favre, Bauunternehmer und autodidaktischer Ingenieur
  2. Vorlage: kein
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_348.jpg&oldid=- (Version vom 3.3.2023)