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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

zu einer Vertheidigung und setzte zu diesem Behufe einen Kriegsrath ein, in welchem neben dem rechtskundigen und staatsklugen Bürgermeister Dr. Steinwich die angesehensten Vertreter der Bürgerschaft, unter ihnen namentlich der „Worthalter“ Justinian Koch, saßen.

So begann die langwierige Belagerung und die heldenmüthige Vertheidigung von Stralsund, deren Geschichte die „Gartenlaube“ ihren Lesern schon früher, gelegentlich des zweihundertfünfzigjährigen Jubiläums des Abzugs der Wallenstein’schen Belagerungsarmee, ausführlich berichtet hat. (Vergl. Jahrg. 1878, S. 514 u. f.)

Der am 24. Juli 1628 erfolgte Rückzug nach der mecklenburgischen Hauptstadt Güstrow mag ein harter Entschluß für den unbeugsamen Friedländer gewesen sein, aber er war nothwendig: zum ersten Mal hatte ihn der Widerstand einer für ihre politische und religiöse Freiheit begeisterten Bürgerschaft die Grenzen seiner Macht erkennen lassen.

Ist es nicht eine ähnliche Unterschätzung der im Innersten der Menschenbrust waltenden sittlichen Kräfte gewesen, welche wenige Jahre später seinen Untergang herbeiführte? Dem Kampfe gegen das „ewig Gestrige“ ist auch diese gewaltige Titanennatur erlegen. Der Stadt Stralsund und ihren muthigen und umsichtigen Führern aber gebührt das Verdienst, dem Ehrgeize des stolzen Mannes zum ersten Mal Schranken gesetzt zu haben. Die Väter der Stadt, welche dem Abgesandten des kaiserlichen Generalissimus eine abschlägige Antwort ertheilten – die Scene, welche der Künstler in dem diesem Artikel beigegebenen Bilde veranschaulicht hat – haben zur Rettung des protestantischen Glaubens, zur Aufrechterhaltung der politischen und der Gewissensfreiheit in Deutschland ein Wesentliches beigetragen. Und eben darum bildet die Belagerung von Stralsund eine erhebende Erscheinung in der sonst so trüben Zeit.




Die Mutter.

Charakterstudie von M. Corvus.[1]

„Ich kann es nicht allein mit mir tragen; ich muß es Dir, und vor allen Anderen Dir zuerst sagen: Mutter, theuere Mutter: Er liebt mich. Wie wunderherrlich mich diese Worte anblicken, nun sie geschrieben vor mir stehen – mit zitternden Buchstaben zwar geschrieben; denn meine Hand bebt unter dem seligen Klopfen meines Herzens – und doch, wie viel herrlicher, süßer klang es noch, da er mir es sagte! O liebe Mutter, denke zurück an die Stunde, als mein guter Vater Deine Hand nahm und Dir in’s Auge sah, um Dir zu sagen. ‚Ich liebe dich‘, wohl ganz so, wie Reinhard es soeben mit Deiner Käthe gethan – und in der Erinnerung an jene Seligkeit fühle voll das Glück Deines Kindes und freue Dich mit ihm! Es ist eine Himmelsgabe, daß er mich liebt, mich zu lieben vermag, er, der so gut, so klug und bedeutend ist, mich, die ich so gar wenig bin. Meine ganze Seele mit allen ihren Mängeln liegt vor ihm, und doch zieht er mich an sich und bittet, daß ich ihm angehören wolle. Ist das nicht ein Gnadengeschenk des Höchsten? Wie konnte ich da anders, als ‚Ja‘ sagen? Und nun wirst auch Du, meine Mutter, kein ‚Nein‘ ihm antworten, so wenig, wie der Vater, wenn Reinhard kommt, Euch zu bitten, daß Ihr mich ihm gebt. Wer in sein ernstes, klares Auge sieht, der muß ihm ja vertrauen, und so wie er aussieht, spricht und denkt er auch; es ist alles so wahr und zuverlässig an ihm, und vor allem darum liebe ich ihn von ganzem Herzen.“ –

Das Briefbillet sank mit der Hand, die es hielt, in den Schooß und die Leserin sah bestürzt und verwirrt zu dem Manne auf, der ihr gegenüber am Frühstückstische saß.

Es war ein anmuthender Platz hier vor dem Gutshause, unter dem dichten, kühlen Schatten der Lindenbäume. Von dem rückwärts gelegenen Wirthschaftshofe tönte reges Leben herüber, das Geräusch abfahrender Wagen, das Bellen des Hofhundes, der klirrend an seiner Kette riß, und das Geschrei aufgescheuchten Federviehs – das alles erhöhete nur um so mehr die tiefe, behagliche Ruhe im Schatten der Lindenbäume.

„Was hast Du, Constanze? Du siehst ja ganz erschrocken aus – es ist doch Käthe nichts zugestoßen?“ fragte jetzt der Herr, aus seiner Ruhe geschreckt.

„Bewahre, Robert, es ist ihr nichts Schlimmes geschehen – und dennoch! – Nun, lies selbst ihren Brief! Ach, wenn ich sie doch nicht von mir gelassen hätte!“ seufzte sie und reichte ihm den Brief hin.

Er las hastig.

„Ja,“ sagte er nach einer Weile, „es wäre allerdings gescheidter gewesen, wir hätten die Einladung zu dem ganzen Schwindel von Hochzeitsspectakel und Brautjungfernschaft kurzweg abgeschlagen. Mir wollte gleich die ganze Geschichte nicht in den Sinn. Da wird man aber von allen Seiten beschwatzt, bis man zugeben muß. Wenn durchaus Käthe dabei sein mußte, konnte da Pastor Kunze die Hochzeit seiner Tochter nicht noch hier feiern, ehe er in seine neue Stellung nach Frankfurt übersiedelte? Kaum zwei Monate sind seitdem vergangen, und da war gegen die Reise mit keinem Nein aufzukommen, weil die Mädchen wie Schwestern an einander hingen. Was hat man nun von seiner Güte? Ein trefflicher Gebrauch, den das Mädel von der ersten Freiheit macht, welche wir ihr zugestehen! Sie muß rein toll sein, mir nichts dir nichts sich zu verlieben und zu verloben, und obendrein sich einzubilden, wir werden auch gleich Ja und Amen zu dieser Tollheit sagen. Aber daraus wird nichts. Jungfer Uebermuth soll sich wundern. Und einen solchen Brief zu schreiben, aus dem kein vernünftiger Mensch klug werden kann. Wer und was ist dieser Er? Man erfährt nicht einmal, ob Reinhard Vor- oder Familienname ist. Weißt Du es etwa?“

„Der Vorname, denke ich – wie sollte ich es wissen, Robert?“ erwiderte seine Frau bekümmert. „Sie hat ja den Namen noch in keinem ihrer Briefe genannt, überhaupt von keiner Herrenbekanntschaft geschrieben, nur des Brautführers erwähnt, der ihr zugetheilt sei – ein Kaufmann und Freund von Minna’s Bräutigam – ich vermuthe, daß Jener der so plötzlich Geliebte ist. Das voreilige, hitzige Kind – in welche Verhältnisse hat sie sich da kopfüber gestürzt!“

„Sie muß zurück – muß den ganzen Unsinn vergessen – eine Siebenzehnjährige sollte noch gar nicht an solche Dinge denken,“ brauste er wieder auf. „Ich fürchte, wir haben sie verzogen, ihr zu viel den Willen gelassen – –“

„Sie ist ja unser einziges Kind,“ schaltete seine Frau begütigend ein.

„Und nun macht sie, was sie will,“ fuhr er, unbeirrt von ihrer Zwischenrede, fort. „Muß auch gerade die Ernte sein, sodaß man vom Gute nicht weg kann! Sonst reiste ich noch diese Stunde fort nach Frankfurt, sie zu holen und Pastor Kunze meine Meinung darüber zu sagen, was er da in seinem Hause, ohne unser Wissen, für Dinge vor sich gehen läßt.“

„Aber Robert, nimm es nur nicht so schlimm auf! Der Pastor wird von der Sache gar nichts ahnen, und überdies, wenn Käthe den Mann liebt und er sie, er auch ehrenhaft und gut ist, wie dürften wir da ihr Glück vernichten oder stören, den schönsten Jugendtraum ihr trüben wollen? Greifen wir doch nicht hart hinein, ehe wir wissen, ob es nöthig ist!“

„Aber nach Hause muß sie kommen, und das sofort,“ beharrte er; „dann wollen wir hören, wer dieser Reinhard ist. Schreibe es ihr gleich, Constanze, und treibe dann Jemand auf, der hier abkommen und den Brief noch heute zur Stadt schaffen kann! Ich muß nun auf dem Felde nach den Leuten sehen.“

Er stand auf und wendete sich zum Gehen. Plötzlich aber hemmte er nachdenklich den Schritt, und sich wieder umkehrend, sah er seine Frau mit einem sonderbaren Ausdruck von Mitleid an.

„Reinhard – –? Constanze, wenn das sein Familienname wäre!“ sagte er in einem leisen, gedrückten Tone. „Es laufen zwar der Reinhard’s viele in der Welt umher – der tückische Zufall spielt aber manchmal sonderbare Weisen und führt lange getrennte Menschen einander wieder zu.“

  1. Verf. von „Schwester Carmen“ (vergl. Jahrgang 1880, Nr. 40 u. f.), welche mit so vielem Beifall aufgenommene Erzählung soeben in Buchform (Leipzig, Schlicke) erschienen ist und die wir in dieser ihrer neuen Form der allgemeinen Beachtung hiermit warm empfehlen. D. Red. 
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_102.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)