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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

muß? Schüchtern tritt er näher. Der Raum scheint ja leer zu sein … doch – die kleine Bäckerstochter ist drinnen.

Gustel schiebt sich an den großen, teiggefüllten Trögen und Mulden entlang und scheint stark gelangweilt zu sein. Sie hat sich hierher geflüchtet, weil die Räume der Familienwohnung, deren Fenster auf die Straße zu gehen, fast sämmtlich jetzt zu Geschäftszwecken benutzt werden. Um sich die Zeit passend zu vertreiben, fängt sie endlich an, die aufgespeicherten Berge von Schaumconfect und Marzipan knabbernd einer gründlichen Mundprüfung zu unterziehen und dabei sich selbst die Devisen der Bonbons und Pfefferkuchenherzen laut vorzulesen.

Jetzt bemerkt die Gustel aber die schwarze Gestalt und fährt erschrocken zusammen. Aber gar bald gewinnt das runde freundliche Gesichtchen seinen ruhigen Ausdruck zurück. In dem geschwärzten Antlitz hat sie mit einem Male zwei blaue Augen erblickt, die sie bekannt ansprechen. Sie erinnert sich mit voller Bestimmtheit, gerade diesen kleinen Schornsteinfeger schon einmal hier im Hause gesehen zu haben – einmal oder zweimal – das eine Mal weiß sie’s ganz gewiß. Es ist im letzten Sommer gewesen, als die Eltern mit den Nachbarn Nachmittags eine Partie machten, die Gustel aber zu Hause bleiben mußte, der Schule wegen. Damals war der kleine Schornsteinfegerjunge auch gekommen um im Backhaus die Esse zu kehren, und war vom Hof aus einen Augenblick auf den Gartenfleck draußen getreten, um sich die Blumen in der Nähe zu betrachten. Die Gustel aber hatte gerade zufällig in der Laube gesessen und die römischen Könige gelernt – oder vielmehr lernen wollen; die alten hohen Herren wollten nämlich durchaus nicht in Gustel’s Kopf, obgleich sie sich Nachts das Geschichtsbuch unter das Kopfkissen gelegt hatte. Da – mit einem Male hatte der kleine Essenkehrer die ganze Reihe hergeschnurrt, vom seligen Romulus bis zum Tarquinius Superbus. Das hatte der Gustel natürlich sehr imponirt und ein Gespräch vermittelt, aus dem sie erfuhr, wie der kleine Schornsteinfeger – ach so lebensgern! – ein großer Schüler geworden und alle Tage mit buntumränderter Mütze zur Schule gegangen wäre, um so recht, recht viel zu lernen, besonders Zeichnen, was der Vater auch so gut gekonnt habe. Wer zeichnen könne und ordentlich Geld dazu habe, der könne nämlich studiren und Baumeister werden und schöne Kirchen und Thürme bauen. Wäre er Baumeister, würde er aber der Gustel zuerst ein schönes Haus bauen – das solle ihr schon gefallen. Nun, das that schon das Luftschloß; die Gustel lachte bereits mit dem ganzen Gesichte. Sie hatte mitleidigen Herzens oft an den armen kleinen Schornsteinfegerjungen denken müssen. Und nun sah sie ihn wieder, und er stand wie ein Häufchen Unglück frierend dort an der Thür. Vielleicht hatte er Hunger – da konnte sie ja helfen.

„Willst Du nicht ein paar Brödchen?“ fragte sie freundlich.

Fritz nickte leise und nahm dankend ein paar altbackene Semmeln, die der Geselle verächtlich abseits gelegt hatte, und schob sie in die Tasche.

„Komm doch ordentlich herein und wärme Dich!“ fuhr Gustel eifrig fort; „mache aber die Thür zu – so!“

Nur zögernd trat der Knabe näher, als fürchte er, daß bald ein Anderer kommen werde, um ihn hinauszuwerfen. Da hörte er die Gustel plötzlich van Neuem fragen:

„Möchtest Du nicht auch eine Frau zum Weihnachten?“

Fritz traute seinen Ohren nicht und sah verdutzt in die Höhe. Eine Frau? Sonderbar! Ja, wenn’s ein schönes Geschichtenbuch gewesen wäre!

„Ich meine eine aus Pfefferkuchen, wie sie dort oben auf den Börden stehen, mit Rosinenaugen und einer Nase von Mandelkern,“ gab Gustel Personalbeschreibung.

Jetzt freilich lachte der Fritz und liebäugelte zärtlich nach seinem braunen Schatz hinaus. Erfreut und verlegen stotterte er seinen Dank für das zukünftige Liebesglück. Gustel aber war noch nicht zufrieden.

„Nimm lieber ein Lebkuchenherz!“ gab sie guten Rath. „Sie schmecken viel schöner; es sind Nürnberger und werden drüben in der Conditorstube gebacken. Die häßlichen braunen Puppen dort sind nur für die Kinder,“ setzte sie altverständig hinzu. „Ich suche Dir eins aus, mit einem schönen Spruch –

Dies süße Herz, ich schenk es Dir,
Doch gieb das Deine mir dafür!’“

las sie von einem quer über einen riesigen Lebkuchen geklebten Papierstreifen ab. „Gefällt Dir das?“

„Sehr schön!“

„Oder weißt Du was,“ fuhr die kleine Plaudertasche fort, „der Geselle soll Dir mit Zuckerguß Deinen Namen daraufschreiben. Nicht wahr?“ Dabei schob sie sich an den langen blankgescheuerten Tischen entlang, auf welchen der Brodteig zu zierlichen Laiben ausgeformt wurde und auf welchen darum der Mehlstaub so dicht verstreut lag, wie draußen aus den Dächern der erste Schnee. „Wie heißt Du eigentlich?“

„Ich? Friedrich Wilhelm Klauer.“

Gustel traute ihren Ohren nicht und sagte:

„Du machst Spaß. Friedrich Klauer? So heißt ja mein Vater.“

„Doch – ganz gewiß!“ versicherte –Fritz.

„Buchstabire einmal!“ befahl die ungläubige Gustel und schrieb alsbald die Buchstaben mit den tintenbeklexten Fingerchen in den Mehlstaub nieder, wie um sich selbst zu überzeugen. Da öffnete sich schnell die Thür, und der Altgeselle trat ein, um nach dem Brodteig zu sehen. Der „schwarze Fritz“ aber erinnerte sich noch zu guter Stunde, daß er nicht in den geheiligten Raum gehöre und daß es hohe Zeit, sich zu drücken und an die Arbeit zu gehen. Darum schlüpfte er blitzschnell hinaus und trat in’s Backhaus. Dort hob er sofort den Eisenschieber in die Höhe, welcher die neben dem Backofen gelegene viereckige, zum Einsteigen bestimmte Oeffnung des Schornsteins verschloß, paßte die kleine Leiter hinein und streifte die Holzpantoffeln von den Füßen, um mit dem Handwerkszeug in den Orkus hinaufzusteigen. Von den letzten Sprossen der Leiter klimmt er dann weiter, indem er einen vorspringenden Stein gewinnt, oder in der steil herabfallenden Brandmauer, mit Händen und Füßen tastend, eine kleine Lücke erspäht, in welcher der nackte Fuß haften kann. Und so ist er bis zur Höhe der ersten Etage emporgeklommen. – Da, o Schreck und Grausen! sitzt er plötzlich fest! – War bei einer kürzlich vorgenommenen Ausbesserung des Mauerwerks die Schornsteinöffnung enger geworden, hatte er, was wahrscheinlich, beim Aussteige die Kniee zu sehr angezogen; er sitzt mit dem Handwerkszeuge wie eingekeilt, und kann weder vor– noch rückwärts. Umsonst bemüht er sich immer von Neuem – und so tritt ihm bald der Angstschweiß auf die Stirn. Vielleicht kann er Hülfe errufen? Er strengt die Stimme an – klingt nicht von unten herauf unausgesetzt das verworrene Geräusch von Menschenstimmen? Richtig, jetzt vernimmt er sogar deutlich die rauhe Baßstimme des dicken Bäckermeisters, welcher seinen Leuten befiehlt, den Ofen am Abend noch einmal zu heizen; die Arbeit soll die Nacht hindurch weiter gehen. Und mit steigendem Entsetzen erkennt Fritz die neue Gefahr: der neu aufsteigende Rauch muß ihn ja unfehlbar ersticken. Noch einmal strengt er alle seine Kraft an, Aber seine Worte verhallen nach oben, wenigstens werden sie in an der Geschäftigkeit und Unruhe dort unten nicht vernommen. Da, o da beginnt sich schwer und bleiern aus die Seele des armen Knaben die – Todesangst zu legen. Soll er also wirklich hier sterben, einsam und verlassen? Ach, verlassen freilich ist er auch im Leben. Und dennoch klammert sich die junge Seele mit allen Fasern verzweifelnd an das Licht, an das Leben. Unwillkürlich blickt er zur Höhe auf und sieht, wie zum Troste, hoch über sich im Aether schimmernd, ewig, treu, wachsam wie das Auge Gottes selbst – den hellen Abendstern



3.

„Kleine Hexe, was machst Du da?“ fragt der dicke Bäckermeister drinnen in der Backstube die Gustel.

Die Kleine hat sich von all den feinen appetitlichen Sächelchen dort ein ansehnliches Häuflein zusammengelesen, welches sie soeben etwas verstohlen in den weiten Schooß einer viereckigen, weißen Papiertüte zu bergen versucht.

„Ich – ich – Nichts!“ stottert aus der Gustel, trotz der unschuldigen Blauaugen, das böse Gewissen.

„Heraus mit der Sprache! Was soll damit? Giebt’s vielleicht wieder eine sogenannte Weihnachtsbescherung für arme Kinder in der Schule? Auch eine neue Mode! – Nun meinetwegen! Nimm aber von dem bunten, billigen Kram dort!“

Seit die Brühe des Wohlstandes, in welcher der Meister schwamm, so fett geworden war, hatte er zuweilen nichts dagegen, wenn auch die Armuth ihr Stücklein Brod hineintauchte. Er hatte mitunter weiche Anwandlungen – so auch heute.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_859.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)