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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

dem Waldwege gegenüber heraus. Nehmen Sie diesen Hut! Ich sorge, daß Ihr Pferd ungesehen bleibt.“

Bald darauf wanderte Curt den angedeutetem Weg. Seine Gedanken beschäftigten sich mit der von Herrn von Pannewitz hingeworfenen Bemerkung: „Wenn wir ihn nicht aussöhnen können, bringen wir ihm die Idee nicht aus dem Kopfe.“ Aussöhnen – das war leicht gesagt. Welches Mittel gab es, um den alten Eisenkopf zu einer Versöhnung zu stimmen?

Eines – vielleicht. Wie gern Curt zu diesem einen gegriffen hätte! Vor einer halben Stunde hatte es vor ihm auf den Knieen gelegen; er hätte es vielleicht an sein Herz nehmen können, wäre er weniger gewissenhaft gewesen. Es war auf dem Wege zu ihm. Die Versuchung kam zum zweiten Male; wenn er zu Anne-Marie von Lebzow sagte: Nur so kann das Drohende abgewendet werden, daß Du mich eng neben Dich stellst, so eng, daß er um Deinetwillen – –

Fort damit! Keine erzwungene Ehe! Es wäre eben wieder eine Vergewaltigung gewesen.

Als er aus der Parkthür aus die Straße hinaus trat, fesselte eine eigentümliche Erscheinung am Himmel sein Auge. Der Weg führte in nordwestlicher Richtung. Dort hatte sich über dem Horizonte eine einzige lange, weißliche Wolke erhoben deren Enden rechts und links fernab hinter den Bäumen verschwanden. Diese Wolke hatte das Aussehen eines der Länge nach zusammengerollten Schleiers von weißer Seide und flimmerte in so wunderlicher Weise, daß es schien, als wälze eine unsichtbare Kraft sie über den Wald herauf. Droben war der Himmel dunkelblau, unter ihr von einer fremdartiger glasiger Farbe, welche vom lichten Grün sich bis in’s Gelbliche abstufte.

Die Schwüle ringsum war beängstigender als zuvor – seltsam still Alles ringsum. Kein Vogellaut war zu vernehmen. Die Bäume schienen erstarrt zu stehen, um etwas Ungeheuerliches über sich ergehen zu lassen.

Curt schüttelte besorgt der Kopf. Das Phänomen war ihm freilich völlig unverständlich. So schloß er denn die Parkthür ab, ließ der Schlüssel in die Tasche gleiten und betrat der jenseitigen Wald. In diesem Augenblicke vernahm er ein Rollen zur Rechten, welches ihn anfangs vermuthen ließ, daß der Wagen des Onkels angelangt sein möchte. Dann rechnete er nach – es war unmöglich. Wenn Jochen leidlich fuhr, so brauchte es noch eine Viertelstunde, ehe sie in Branitz sein konnten. Dabei fiel ihm etwas Beunruhigendes ein: der Zufall, welchen der alte Herr in seiner Stube gehabt.

Er hatte im Drange der letzter halben Stunde nicht ernstlicher über denselben nachgedacht. Ein alter Körper ist Schlagflüssen ausgesetzt; eine Blutüberfüllung des Gehirns war es doch gewesen, was sein rasches Eingreifen, wie es schien, rechtzeitig beschwichtigt hatte. Nun die holprige, stockernde Fahrt – wenn das Traurige geschehen wäre, der Onkel vielleicht gar – –

Nein, das konnte, das durfte nicht sein. Anne-Marie von Lebzow würde ihn als den Mörder des Onkels betrachtet haben. Dann war das Tafeltuch erst völlig zwischen ihm und ihr zerschnitten.

Aber hatte er denn noch Hoffnung? Wer hatte denn an jenem Abend – gestern Abend – gesagt: Für immer? Welch ein hoffnungsseliger Thor er war!

Er ging eine Viertelstunde und länger, so rasch ausschreitend, wie es ihm möglich war. Plötzlich stutzte er. Zur Linken kam weit aus dem Walde her ein unheimlicher Ton; er blieb einen Moment stehen und horchte, indem er sich die Stirn unter dem Hute trocknete. Ein Aechzen, Pfeifen, Rasseln; dazwischen dumpfe Schläge. Der Ursprung war nicht hier, nicht da; der Schall lies weit gedehnt von Westen nach Osten – oder von Osten nach Westen; jedenfalls war eine ganze lange Raumstrecke daran betheiligt. Sein Auge hob sich unwillkürlich zum Himmel empor, und da gewahrte er denn, daß jene Wolke, deren Aufsteigen er beobachtet, fast über ihm stand und der Himmel in zwei Hälften schied, eine blaue und eine grün-gelb glasige. Er bemerkte deutlich, wie die langggestreckte seidig glänzende Wulst droben um sich selbst gedreht wurde.

Zugleich aber näherte sich jenes schauerlich-unerklärliche Geräusch mit rasender Schnelligkeit; es verstärkte sich zu einem anrückenden Höllenconcert. Dieses Getöse hatte Aehnlichkeit mit einer gewaltiger Brandung, welche der Sturm auspeitscht – so donnerte, prasselte, gischte und zischte, pfiff und heulte es durch einander; dazu immer wieder jene abgebrochenen, dröhnenden, kurzen Schläge, die sich schließlich anhörten, als bräche in einiger Entfernung ein Thurm zusammen und schlage schmetternd auf der Boden.

„Ein Sturm,“ sagte Curt, dessen Antlitz alle Farbe verloren hatte. „Ein Sturm im Walde – und was für einer! Das geht um’s Leben.“

Er verlor die Besinnung nicht, sondern betrachtete prüfend den Waldbestand. Riesige alte Buchen breiteten die nackten Aeste aus, dazwischen hier und da ein gewaltiger Eichenstamm knorrige Arme reckend, schwächlicher Nachwuchs, halb verdeckt durch Unterholz aller Art. Wenn einer dieser Bäume stürzte, wenn nur ein Ast seinen Kopf traf – –

Herr Gott – und Anne-Marie! Anne-Marie von Lebzow jetzt im Walde! Sie konnte nicht weit entfernt sein; es war eigentlich kaum zu begreifen, daß er ihr noch nicht begegnet war.

„Anne-Marie! Cousine Lebzow!“

War es ihr Gegenruf, was er gehört hatte? Er wußte es nicht, aber er stürzte selbstvergessen noch ein Stück vorwärts. Wer unterschied jetzt noch den Laut einer menschlichen Stimme? Es war da; es brach zwischen allen Bäumen zugleich hervor, eine wahnsinnig, tobsüchtig geworbene ungeheure Kraft, welche blind vorwärts stürmte, um sich schlug, heulte, brüllte. Diese strömende Luft, welche sich gegen alles warf, was ihr im Wege stand, war förmlich hart; Curt hatte eine Empfindung, als drängten eiskalte Hände, so viel an seinem Körper Platz hatten, auf ihn ein, und mit so unwiderstehlicher Gewalt, daß er im nächsten Augenblick erwarten müsse, wie ein Ball auf hundert Schritte durch die Luft geschleudert zu werden. Sein Hut war beim erster Anprall davongegangen; auf dem Kopfe prickelte es wie von eindringenden Eisnadeln: er taumelte über den Weg, ward ein paar mal um sich selbst gewirbelt und stemmte sich dann mit Händen und Füßen gegen eine Buche, sah sich indessen sofort mit dem ganzen Körper an den Stamm gedrückt, als wäre er festgenagelt. Ein Regen von abgerissenen Zweigen prasselte nieder; dann und wann krachte ein brechender Ast, und das klang wie der dumpfe Aufschrei eines zu Tode Getroffenen. Die riesigen Bäume schwankten unheimlich; die Aeste der eigentlichen Krone griffen wie Arme über den Stamm herüber. Die ganze Luft war ein Chaos, ein wüstes Durcheinander von schlagendem, fliegendem, quirlendem Astwerk und Blättermassen; denn die tiefen Lagen vermorschender Blätter im Waldgrunde wurden aufgewühlt und schwirrten wie unzählige Flocken verdüsternd durch den Gesichtskreis. Dazu brausten Töne durch die Luft, deren Ensemble das Ohr kaum zu ertragen vermochte. Was bedeutete der Lärm einer Schlacht gegen dieses entsetzliche Getöse! Langgezogene Disharmonien wie von Tausenden von Orgeln, bald diese, bald jene Stimme vorgedrängt, manchmal ein Geheul wie von sämmtlichen Bestien eines Urwaldes, dazwischen Schnellfeuer einer ganzen Armee und das erschütternde Krachen von Batteriesalven. Ein Mensch, der das zwei Standen lang hätte anhören müssen, würde taub oder wahnsinnig geworden sein.

Curt wäre gern um den Stamm herumgegangen, aber er mußte fürchten, auf der Stelle fortgerissen und mit tödtlicher Gewalt gegen einen anderen Baum geschleudert zu werben. Und doch preßte es ihm die Brust zusammen, als wollte es ihn zerquetschen und nur mit Mühe vermochte er zu athmen. Er machte einen Versuch, die Arme zu heben, um sich die Ohren zuzuhalten; diese Arme waren wie Blei, und er fühlte eine solche Müdigkeit, daß er den Versuch einstellte. Die Augen dauernd offen zu halten war unmöglich; nur ab und zu ließ er blinzelnd das schauerliche Bild auf sich wirken. Zweige und Blätter schlugen gegen seinen Körper, jene oft schmerzhaft genug, aber dies war ja ein Kinderspiel gegen das, was ihm bereits hätte geschehen können. Da – er riß die Augen weit auf: eine alte Buche senkte sich schwerfällig – links drüben stand sie – vielleicht dreißig Schritt seitwärts, und plötzlich stürzte die gewaltige, alles unter sich niederbrechend. Es war wie ein Donnerschlag. Wo ihre Wurzel sich hob, stieg es geisterhaft, kolossal aus der Erde, als höbe sich ein begrabener Mammuth der Auferstehung entgegen. Ueber ihren Fall hin wüthete die Zerstörung weiter; der Sturm sauste in die Lücke, fuhr über den Weg, welchen die Aeste der Krone überstarrten brach auf Curt’s Seite ein halb Dutzend junger Stämme um oder riß sie mit den Wurzeln aus, daß die Erde weit herum flog – ein ganzes Stück hin vernahm sein Ohr das Krachen und Knattern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_843.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)