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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Zum hundertjährigen Jubiläum der Gewandhaus-Concerte zu Leipzig.
Von Hermann Kretzschmar.

Einen sehr bedeutenden Platz nehmen die sächsischen Lande in der Geschichte der Tonkunst ein. Sie sind die Heimath der Schütz, Bach, Händel, Marschner, Schumann, Wagner und die Schaffensstätte einer erstaunlich großen Zahl von Männern, die sich in der Musik ausgezeichnet haben. Von den frühesten Zeiten an besaß Sachsen blühende Anstalten zur Pflege der Musik. Allberühmt sind die Dresdener Hofcapelle, die Sängerchöre der Kreuzschule und der Thomana. Jünger als diese Institute ist die Concertgesellschaft des Leipziger Gewandhauses, an Ansehen und Bedeutung ist sie jedoch eine der ersten Kunstanstalten Europas.

Am 25. November dieses Jahres sind hundert Jahre verflossen, seitdem das erste Gewandhaus-Concert stattfand, und man kann einen Jubilar nicht besser ehren, als indem man aus seinem Leben erzählt. Die Geschichte der Gewandhaus-Concerte ist der Ruhm aller Derer, welche an ihnen betheiligt sind, der Stadt, die von jeher mit Stolz dieses Institut in ihren Mauern sah, des Directoriums, welches die Einrichtungen dieser Concerte traf und überwachte, der Musiker, welche sie ausführten, und des Publicums, welches sie anhörte.

Sie Alle können sich die Gewandhaus-Concerte zur Ehre anrechnen; denn was hier durchgeführt wurde, ist in ganz Deutschland nur einmal gelungen. Was sagen wir, in Deutschland – in der ganzen Welt. Es giebt keine zweite Stadt, die jeden Winter zweiundzwanzig solche Concerte zu erwarten hat, wie sie in dem Leipziger Gewandhause nun seit einem Jahrhundert fast ohne Unterbrechung stattgefunden haben. Fragt man nach der Ursache dieser großen Zahl, so muß man zur Beantwortung dieser Frage noch eine Strecke hinter die Gründung der Leipziger Gewandhaus-Concerte zurückgreifen.

Wie bekannt, entstanden von der Mitte des siebenzehnten Jahrhunderts an wie in anderen Culturländern, so ganz besonders in Deutschland vielerlei sogenannte musikalische Collegien. Das waren Clubs, in denen sich die Musikfreunde eines Ortes vereinten, um mit einander zu musiciren – eine sehr heilsame Ergänzung der öffentlichen Musikpflege! Das Musiciren schloß anfänglich andere gesellschaftliche Bestrebungen nicht aus; denn neben der Musik hielt man wissenschaftliche Vorträge, tafelte und tanzte. Aber es liegt nun einmal im Wesen der Musik, daß sie eifersüchtig ist, dämonisch eifersüchtig. Sie verlangt den ganzen Menschen. So kam es, daß diese Collegien bald ausschließliche Musikabende wurden, die sich von den heutigen Concerten nur dadurch unterschieden, daß keine Proben abgehalten wurden. Ganz Deutschland war um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts voll solcher Musikinstitute mit wöchentlichen Concerten. Wo sind diese nun hin? Wer trägt die Schuld, daß sie verschwanden? Die bösen Proben. Die wachsenden Ansprüche der Orchesterpartien wuchsen allmählich den Dilettanten über die Köpfe, und damit war es mit den musikalischen Collegien aus. Die einzige Stadt, welche die Krisis überstand und die wöchentlichen Winterconcerte rettete, war Leipzig.

Actenmäßig zu constatiren ist allerdings die Existenz von Musikcollegien in Leipzig erst mit dem Jahre 1741, wo der berühmte Telemann, damals Cantor an der Neukirche, ein solches Collegium gründete und leitete, welches besonders von Studenten unterstützt wurde, aus deren Reihe er selbst hervorging. Auch der große Johann Sebastian Bach war in der ersten Zeit seines Thomascantorats Director eines collegium musices. Wir wissen, daß mit seiner Gesellschaft eine zweite rivalisirte, welche unter dem Organisten der Nicolaikirche, einem gewissen Görner, stand.

Der siebenjährige Krieg gebot eine Pause, aber nach seiner Beendigung stand das Musikcollegium in imposanter Gestalt wieder auf. Der Kaufmann Zehmisch, derselbe vornehme Handelsherr, welcher das noch jetzt vorhandene sogenannte alte Theater erbaute, eröffnete im Jahre 1763 das Collegium unter dem Titel „Großes Concert“ in den „Drei Schwanen“ auf dem Brühl. Das Local scheint den Beschreibungen nach ziemlich primitiv gewesen zu sein: ein düsterer Saal von der Größe einer mittelmäßigen Wohnstube mit einem engen Zugang, der durch eine gemeine Herberge führte. Gleichwohl versäumte das vornehme Publicum nicht, sich allwöchentlich dort einzufinden, und auch der Kurfürst von Sachsen beehrte das dortige Concert mit seinem Besuche, so oft er in Leipzig anwesend war. Später zog man in ein Haus am Markte.

Das Orchester war für jene Zeit reich besetzt.[1] Die meisten Solisten traten zugleich als Solospieler auf, und mehrere unter ihnen erwarben sich als Virtuosen einen berühmten Namen. Dirigent war Johann Adam Hiller, ein Musiker, den die allgemeine Geschichte der Kunst immer mit Ehren nennen wird. Ein Zögling sächsischer Alumnate von Bautzen und Dresden, schwankte er lange zwischen Tonkunst und Jurisprudenz, wandte sich aber seit 1760 ausschließlich der ersteren zu. Er schrieb komische Opern zu Texten von Weiße, die seiner Zeit Aufsehen erregten. Hiller selbst war, trotz seiner launigen Musik, ein schwerer Hypochonder und lange nicht zu vermögen, eines seiner Werke, die alle Welt zum Lachen reizten, selbst anzusehen. Ja, man erzählt, daß ihn sein Arzt mit Gewalt in das Theater schaffen mußte. Als Dirigent hat sich Hiller namentlich um Händel’s „Messias“ Verdienste erworben.

Er ging 1785 wieder in’s Ausland, kam jedoch 1789 als Thomas-Cantor nach Leipzig zurück. Sein eifrigstes Bestreben war nun, in dem großen Concerte den Gesang auf gleich hohe Stufe zu bringen, wie die Instrumentalmusik, und umsichtig und thätig, wie er war, gelang es ihm auch bald, dieses Ziel zu erreichen, besonders da ihn das Glück begünstigte, eine Corona Schröter – 1764 – dann eine Schmehling, nachherige Mara, auf längere Zeit – 1767 bis 1771 – für dieses Kunstinstitut zu gewinnen. Beide Sängerinnen waren schon zu jener Zeit höchst ausgezeichnet, wenn auch ihr Ruf erst später sich allgemein verbreitete. Tenor- und Baßpartien übernahmen vorzügliche Schüler von Hiller, und die Chöre wurden von Alumnen der Thomasschule besetzt.

Jedes Concert enthielt zwei Theile, zwischen welchen eine Pause zur Erholung stattfand. Der erste Theil wurde mit einer Symphonie eröffnet; hierauf folgte eine Arie, dann ein Concert für ein Instrument, nun ein Divertissement für mehrere Instrumente und endlich ein Quartett, Ensemble oder Chor aus einer Oper. Der zweite Theil begann wieder mit einer Symphonie, der eine Arie sich anreihte, und das Ganze endete gewöhnlich mit einer Partie für das volle Orchester.

Die dirigirende Vorsteherschaft bestand von dieser Zeit an aus neun, später aus zwölf, der angesehensten Concertmitglieder, und so ging Zehmisch’s Alleinherrschaft in eine Vielherrschaft über, zu der gehörten: drei Gelehrte, drei deutsche, zwei französische, ein italienischer Kauf- und Handelsherrn. Diese Einrichtungen des „Großen Concertes“ lagen auch den 1781 in’s Leben gerufenen Gewandhaus-Concerten zu Grunde und bestehen an diesem Institute noch in allem Wesentlichen. Deshalb schien es nöthig, bei denselben zu verweilen.

Zunächst war demnach der Einzug in den Saal des Gewandhauses, welcher am 25. November 1781 erfolgte, nichts als ein Localwechsel. Die „drei Schwanen“ konnten die immer mehr sich steigernde Zahl der Kunstfreunde nicht länger fassen. Da erwarb sich der damalige Bürgermeister und Kriegsrath Müller, dessen Gemeinsinn Leipzig die große Bürgerschule, die Promenaden und die Restauration der Nicolaikirche verdankt, das Verdienst, im Gewandhause auf der Universitätsstraße, einem alten für Militär- und sonstige Lagerzwecke gebrauchten Gebäude[2], einen Concertsaal herstellen zu lassen, der zwar hinsichtlich der Größe nicht zu den ersten in Deutschland gezählt werden kann – er faßt nach mancherlei Vergrößerungen heute schließlich gegen eintausend Personen – wohl aber seiner akustischen Vortrefflichkeit wegen noch jetzt zu den ausgezeichnetsten Sälen gezählt werden muß. Der Bau wurde von dem kurfürstlichen Architekten Dauthe ausgeführt, und der aus Goethe’s „Dichtung und Wahrheit“ bekannte Akademiedirector und Professor Oeser malte die Plafonds. Diese Gemälde stellten die alte griechische und die neue Musik dar. Die alte wird verjagt und dagegen die neue eingeführt. Unter der letzten Darstellung hält ein Genius ein fliegendes Blatt mit der Inschrift „Bach“. Diese seiner Zeit bewunderten und wiederholt beschriebenen Allegorien ließ man 1833 leider übertünchen.

  1. Es bestand aus 16 Violinen, 3 Violen, 2 Cellos, 2 Violons, 2 Flöten, 2 Oboen, 2 Fagotten, 2 Hörnern, einer Laute und einem Flügel.
  2. Dieses feiert am 25. November gleichfalls ein Jubiläum, und zwar das vierhundertjährige seiner Erbauung.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_789.jpg&oldid=- (Version vom 2.12.2022)