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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Riedegg?“

Er blickte erstaunt auf und sah dicht vor sich ein elegantes Cabriolet, dessen Insasse, ein österreichischer Genie-Officier in Uniform, bereits das Pferd angehalten hatte, dem Groom die Zügel zuwarf und hinabsprang. Siegmund erkannte einen jungen Cameraden, mit welchem er während der Feldzugszeit im gleichen Corps gestanden und häufig verkehrt hatte. Lieutenant Edler von Horn war ein Verwandter Friesack’s und schloß sich damals den beiden Freunden als gern gesehener Dritter an.

„Also Du bist es wirklich, Camerad! Bravo! Seit wann bist Du hier? Erst seit heute? Na, dann darf ich Dir keinen Proceß darüber machen, daß Du mich nicht aufgesucht hast.“

„Was auch nicht geschehen wäre; ich hatte keine Ahnung –“

„Du weißt also nicht, daß ich seit Neujahr als militärischer Attaché zur hiesigen Gesandtschaft commandirt bin? Neue Mode des Kaiserreiches, gar nicht übel für Den, der sie mitmachen darf! Uebrigens wärest Du mir keinenfalls entronnen; denn Du hättest Dich doch einmal im Botschaftshotel gezeigt. Hast nichts vor? Begleite mich! Ich bin im Begriff, nach Hause zu fahren und mit Freunden zu diniren. Du wirst gut speisen und charmante Leute kennen lernen. Einverstanden?“

Siegmund überlegte. Der erste Impuls, sich über den Zweck seines Hierseins zu äußern, ward durch die instinctive Unlust zurückgedrängt, mit Einem, der ihn kannte, von seinen ihm selbst so wenig klaren Privatangelegenheiten zu sprechen. Jedenfalls wollte er das erst noch bedenken. Da erwachte ihm ein plötzliches Besinnen, das nur durch die Schärfe- der erfahrenen Eindrücke zurückgedrängt worden: der letzte Brief seiner Mutter hatte ihn angewiesen, seine Antwort an sie Paris, poste restante zu richten. Das hob jede Schwierigkeit. Nachdem ihm nicht geglückt war, ihre Adresse sofort zu erfahren, war es das Einfachste, ihr die seinige durch zwei Zeilen zugehen zu lassen. Der Wunsch, zu überraschen, lag ohnedies schon hinter ihm.

„Nun, Zauderer?“ mahnte der Andere. „Hast Du keine Lust, oder sonst etwas in petto?“

„Nichts! Nur müßte ich zuvor auf der Centralpost ein Wort abgeben.“

„Ich bringe Dich zum Bureau! En avant!“

Siegmund stieg ein. Es war ihm nicht unwillkommen, die für heute unvermeidlichen Wartestunden auszufüllen, und als er dem Vorschlage des Cameraden zustimmte, nahm er sich vor, sich aller fruchtlosen Grübeleien so gut wie möglich zu entschlagen. Sein Gefährte war wie geschaffen dazu, ihm dies zu erleichtern; sein rascher, sprühender Geist rührte an hunderterlei Interessantes, dessen Stoff bald der Vergangenheit, bald der Gegenwart angehörte. In seiner echt süddeutschen Freude am „alten bekannten Gesicht“ ließ er Siegmund nicht mehr los. Nachdem dieser auf dem Postbureau zwei Zeilen geschrieben und zurückgelassen hatte, mußte er ihm nach dem Quai d’Orsay folgen, sich das reizend kokette Hotel der Botschaft zeigen lasten und in Horn’s nahe gelegener Wohnung mit ihm die Herren erwarten, welche ihn dort, nach Abrede, abzuholen kamen.

Bald fanden sich zwei Attachés der österreichischen Gesandtschaft und ein Officier der Garde du Corps ein; die jungen Leute fuhren nun nach dem Rocher de Cancale, um dort zu diniren. Es war zwischen sechs und sieben Uhr, die Sonne im Untergehen, alles Glänzende, Verführerische, Reizende der Straßen und Plätze von goldener Helligkeit überflutet, jede Thurmspitze erglühend. Lebhaft angeregt durch Alles, was er sah, gab sich Siegmund wirklich, wie er sich vorgenommen, ganz der Stunde hin. Sein feiner, energischer Geist erfaßte im Fluge jedes Thema, das während der Stunden des ziemlich verlängerten Diners berührt wurde, und die Courtoisie, mit der er von seinen Landsleuten und dem französischen Officier aufgenommen worden, nachdem ihn Lieutenant Horn in auszeichnender Weise vorgestellt, nahm den Ausdruck unverhohlenen Interesses an. Die Herren wetteiferten in Anerbietungen, ihn mit Paris, dem Pariser Leben bekannt zu machen. Es gab schließlich kaum ein allgemeines Thema, das unberührt geblieben wäre, und der wechselnde Gebrauch deutscher und französischer Sprache, wie er in Anwesenheit eines Franzosen nicht ausbleiben konnte, gab der Conversation noch mehr Pikantes. Geist und Sitten der Nationen kamen zur Sprache. Obgleich Siegmund sich mit der taktvollen Zurückhaltung eines hier Fremden äußerte und seine Bemerkungen meist als Fragen formulirte, ward seine Auffassung der Pariser Sitten, wie sie sich unter dem Kaiserreiche gerade in den Sechsziger Jahren gestaltet hatten, von dem französischen Officier lebhaft bekämpft. Dieser behauptete, daß die Sittlichkeit in allen großen Städten Europas so ziemlich auf gleichem Niveau stünde.

„Paris hat nur mehr Accent als Ihre deutschen Großstädte,“ schloß er; „deshalb drücken sich seine Humore lebhafter aus – im Uebrigen können Sie eben so gut vom Winde verlangen, daß er sich nicht rege, als Unverdorbenheit von einer Weltstadt.“

„Ich selbst bin ein Kleinstädter und spreche aus keiner Erfahrung,“ erwiderte Siegmund. „Doch interessire ich mich für alle Erscheinungen des modernen Culturlebens; gestatten Sie mir eine Frage: galt, was Sie eben sagten, den Individuen oder der Gesammtheit? In letzterem Falle glaube ich nicht, daß Sie Recht behalten. Ihr Land war mir von je besonders interessant; ich wünschte längst, hoffte bestimmt Paris zu besuchen, und las, erfuhr Manches über Pariser Leben. Davon blieb mir aber ein bestimmter Eindruck zurück: mir scheint, daß hier fatalistische Zerstörungen keimen, die bei uns ihres Gleichen nicht haben und in ihren Folgen verhängnißvoll werden müssen.“

„Zum Beispiel?“ fragte der Officier.

„Zum Beispiel das verderblichste aller Systeme, das Spionensystem oder auch die Masse von Spielhöllen, welche neuerdings hier wie Pilze aufschießen sollen.“

„Bah,“ warf der Officier ein – „dieses Wort, deutsch gesprochen, klingt schwarzroth wie die Hölle selbst und bezeichnet schließlich doch nur einen Zeitvertreib, den Viele sich erlauben können, ohne Schaden an Leib und Seele zu nehmen, gegen das Ihre Homburger und Wiesbadener öffentlichen Banken weit schwerer in das Gewicht fallen.“

„Darum eben werden sie aufgehoben – Sie hörten sicher, daß sich dieses vorbereitet –“

Soit! nun fragt es sich, was verdammen Sie so energisch? Wer diese Sitten haßt, kann durch Fernbleiben persönliche Censur dagegen üben. Spielhöllen! Was nennen Sie so? Man geht in diese Häuser, um überhaupt auszugehen, um hier und da ein ernsthaftes Spiel zu machen, ohne daß unsere Vorgesetzten uns im Club zuschauen. Mon Dieu! Diese Salons gehören oft Leuten aus ganz guten Familien, mit denen Jeder umgeht, so lange kein öffentlicher Eclat stattgefunden.“

„Und wenn nun ein solcher Eclat entsteht?“

Der Officier zuckte die Achseln.

„Dann verschwindet Monsieur oder Madame, um anderwärts wieder aufzutauchen.“

„Mir unbegreiflich, wie man sich entschließen mag, den Fuß über die Schwelle solcher. Leute zu setzen, die von der Infamie leben,“ warf Siegmund lebhaft ein.

„Wirklich, Herr Lieutenant, Sie sind zu rigorös,“ bemerkte einer der Attaches.

„Sie sollten sich das in der Nähe ansehen,“ meinte der französische Officier; „nur um Ihrer Strenge die Spitze abzubrechen. Ein Vorschlag, Messieurs! Wie war’ es, wenn wir nach dem Theater einen Abstecher zur Place Royale machte? Es handelt sich um einen Salon des eben besprochenen Schlages,“ wandte er sich zu Siegmund, „einen Salon, dem ein vollendeter Weltmann präsidirt und wo eine süperbe Frau die Honneurs macht.“

„Eine Dame?“ fragte Siegmund wegwerfend.

„Nur die Dame des Hauses. Eine Französin, der man aber einen Beinamen gegeben hat, welcher aus einer Ihrer Opern stammt. Wir nennen sie die Königin der Nacht. Nun, stimmen Sie zu? Man muß die Gelegenheit wahrnehmen, seine Vorurteile abzulegen“

„Von Vorurtheilen kann hier keine Rede sein,“ antwortete Siegmund etwas trocken; „mir sind dergleichen Existenzen in der Seele zuwider, was aber kein Grund ist, die Herren in Ihrem Programm zu stören. Ich bin für heute ganz der Ihre und schließe mich jeder Excursion an, welche Sie belieben.“

„Bravo!“ rief Horn. „Wir nehmen Dich beim Wort.“




31.

Als die jungen Leute das Theater verließen und einen der dort stationirten Wagen anriefen, um nach der Place Royale zu fahren, war es einhalbzwölf Uhr. Waren auch die glänzenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 718. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_718.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)