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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Das Letzte sprach sie mehr zu sich selber, als zu ihrer Begleiterin, welche etwas verschüchtert und stumm noch ein paar Schritte weiter mitging und endlich Halt machte.

„Ja, da soll ich dann wohl wieder umkehren, gnädiges Fräulein?“ fragte sie. „Entschuldigen Sie auch, daß ich mir die Freiheit genommen habe! Ich bin wohl schuld, daß Sie sich etwas aufgeregt haben, aber ich wußte das Alles nicht so.“

„Nein, nein,“ wehrte Anne-Marie hastig ab, und ihr Gesichtchen zeigte schnell wieder den ihm eigenen Zug von Frische und Liebenswürdigkeit, „Sie können nichts dafür, Radmacherin, und vielleicht wird sich auch Alles gut abwickeln. Die Männer sind nur immer etwas unverträglich und hartköpfig. Und was mein Onkel ist – na Adschüs, Fieken!“

„Adschüs auch, und nichts für ungut! – Nein, was sie doch für ein gutes Mädchen ist, und ein kluges Mädchen, unsere Anne- Marie,“ dachte die Radmacherin vor sich hin, indeß ihre Lippen glücklich lächelten; „und Fieken hat sie mich wieder mal genannt, gerade wie dazumal, als sie noch so’n Gör war.“

Anne-Marie von Lebzow ging rascher dem Walde zu, dessen bunte Färbung schon von Weitem den Buchencharakter des Bestandes deutlich genug aussprach. Zuerst mochten es noch trübe Gedanken sein, welche ihr junges Herz beschäftigten; denn die Fältchen hatten sich wieder zwischen die Augen gelegt, und diese Augen waren unruhig und nachdenklich, und einmal sagte sie sogar vor sich hin: „Der arme Onkel thut mir zu leid. Er ist ja ein sonderbarer Mann, und mit dem Gelde weiß er gar nicht umzugehen, aber daß sie ihm auf seine alten Tage diesen Aerger anthun – ob das wirklich nöthig war? Ich verstehe freilich nichts von ‚Fideicommissen‘ oder wie die Dinger heißen.“ – Aber dann kamen ein paar frische Athemzüge, zu denen die reine sonnige Luft so unabweisbar einlud, und da spannte sich ein schneeweißes Band von Altweibersommer leicht schwebend quer über den Weg und legte sich plötzlich über Nase und Wangen, daß sie aus dem Nachdenken aufschrak, und dann lachend die herbstliche Ueberraschung ablöste, und nun hatten Himmel und Erde das gesunde junge Blut wieder. Sie merkte mit einem Male, daß die klarblaue Luft voll fliegenden Gespinnstes war. So weit und frei lag auf beiden Seiten das Land, bis zu fernen Wäldern. Hier und da ein ackerndes Gespann; auf der Bruchwiese weit drüben Arbeiter und Arbeiterinnen beim Heumachen und ein Stück davon auf dem Acker – richtig, da stelzten schon wieder ein Dutzend Kraniche herum. Es war doch eigentlich ein himmlischer Tag und eine himmlische Welt!

Sie näherte sich dem Walde mehr und mehr. Wie doppelte Erfrischung wehte es von ihm her; selbst die leise Beimischung von Sterbeduft hatte nichts Störendes. Die stattlichen Buchenkronen sahen noch so voll aus, als dächten sie nicht an ein Kahlwerden und die Blätter der üppigen Haselbüsche, welche sich unter ihnen fast undurchdringlich dicht am Waldsaume hinzogen, waren noch grün. Nur selten rieselte ein abfallendes Blatt droben und wirbelte zu Anne-Marie nieder, als sie vom Feldwege nach rechts abbog und zwischen dem Waldrande und einem tief eingesenkten Wiesenbande auf schmalem Pfade hinschlenderte. Im Sonnenscheine glitzerten die Blätter der Hasel; bunte Falter, Fliegen, seltsam langbeiniges Wespen- und Schnakenvolk flogen auf und ab, zuweilen einen Abstecher in die Wiesensenkung hinab unternehmend. Auch Anne- Marie stieg ein paarmal nieder, um leuchtend violette Orchideen zu pflücken; mit den Blumen im Schooße, saß sie dann eine Weile still im Grase der Böschung. Sie dachte an ihre verstorbenen Eltern, an die Jugendzeit in Greifswald, an das wunderliche Leben in der Nähe des Onkel Boddin, das sie einst gefürchtet hatte. Und doch war es hübsch in der Verwilderung um sie herum; sie konnte thun und lassen, was sie wollte; die rauhe Art des Barons, seine Seltsamkeiten und Extravaganzen war sie nun gewohnt, und seine Derbheiten hatte er ihr gegenüber verschlucken gelernt. Als Vermittlerin zwischen den Leuten und ihm war ihr sogar eine Art von diplomatischem Wirkungskreis geworden, während freilich die alte Dürten Schoritz sie von wirthschaftlichen Bemühungen eifersüchtig fern hielt.

Wie würde es nun werden?

In der Buche über ihr rasselte und knatterte es; ein Eichkätzchen hatte droben den Halt verloren und fiel dicht neben ihr zu Boden, daß sie erschrocken zusammenfuhr. Ein paar Secunden genügten für das Thierchen, um sich zu sammeln; dann richteten sich die klugen Augen auf Anne-Marie, und im Husch war das anmuthige Geschöpf zwischen den Haselstauden verschwunden. Die junge Dame lachte halblaut; die Farbe kehrte in ihre Wangen zurück, und sie erhob sich, um weiter zu gehen.

Ein schmaler Weg lockte sie in die sonnendurchspielte Einsamkeit des Waldes. Häher kreischten in den Buchenwipfeln; Meisen schwangen sich mit feinem Metalltone hin und her. Zuweilen raschelte es in dem morschen Laube an ihrer Seite, und sie hätte gern gewußt, ob es von Eidechsen oder den feinen Schlänglein herrührte, die sie wohl auch schon hatte über den sonnigen Pfad schlüpfen sehen.

Eine halbe Stunde mochte Anne-Marie auf bekannten Wegen geschritten sein – da stand sie vor einer Schneiße wieder in der Nähe des Fahrweges. Ueber ihr ragten Tannen; sie fand Champignons und Steinpilze; mit plötzlichem Einfalle zog sie ein frisches Taschentuch und begann zu sammeln. Sie hatte kaum die ersten Pilze aus dem Boden gezogen, als sich Wagengerassel näherte. In rascher Wendung fuhr sie empor, neugierig den Einspänner betrachtend, ein Demminer Fuhrwerk, das sie kannte; nur den jungen Mann im Strohhute, der hinter dem lahmen Lorenz im Wagenfond lehnte, suchte sie in ihrem Gedächtnisse vergebens. Sie stand kaum dreißig Schritte von der Straße entfernt, und der mäßige Trab des Miethgauls verstattete ihr recht wohl, dieses nicht sehr volle, intelligent geschnittene Gesicht mit dem Schnurrbärtchen und dem Klemmer auf der Nase, der so moquant saß, auf einen Blick zu erfassen.

Anne-Marie ließ sich wieder zu den Pilzen hinab; sie konnte nicht sehen, wie der junge Mann sich erhob und etwas zu dem Kutscher sagte, und wie er auf dessen Antwort hin mit dem Zeigefinger auf dem Rücken des Alten trommelte. Aber ihr Kopf bog sich verwundert herum, da das Fuhrwerk plötzlich anhielt, und eine beklemmende Ahnung überkam sie, als sie den Fremden mit sehr entschlossener Bewegung vom Wagen springen und elastischen Schrittes auf sich zukommen sah. Sie richtete sich hastig auf, und in der Verwirrung schlug sie das aufgeraffte Taschentuch aus einander und ließ die Pilze zur Erde rollen.

Der Ankömmling lächelte mit leisem Anflug von Spott, indem er ein wenig den Strohhut lüftete. Er mochte im Anfang der Dreißiger stehen, eine stattliche Figur, deren Formen durch die Raschheit und knappe Entschiedenheit des ganzen Auftretens eckiger schienen, als sie in Wirklichkeit waren. Nein: die breiten, zu wenig abgeschrägten Schultern bedingten den Eindruck wesentlich mit.

„Habe ich das Vergnügen, meine Cousine Lebzow vor mir zu sehen? Mein Name ist Curt von Boddin, von der Teterower Familie,“ sagte er mit etwas hartem Accent und einem schwachen Näseln im Ton. „Auch Doctor von Boddin, wenn Sie wollen; denn ich bin Jurist von Studium und Landwirth von Beruf. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch meiner Person erinnern? Ich war vor zehn Jahren einmal bei Ihrer Familie in Greifswald zum Besuch und mußte Ihnen täglich eine Tüte mit Bonbons liefern, welche Sie gewissenhaft aufaßen.“

„Ach ja!“ meinte Anne-Marie nach kurzem Nachdenken, „ich erinnere mich jetzt dunkel.“

„Nun, dann wären wir ja über die Personenfrage einig. Sind Sie ganz allein hier im Walde, wenn ich fragen darf?“ Die junge Dame sah ihn verwundert an.

„Allerdings,“ war ihre Antwort.

„Hm! Das sollten Sie aber nicht sein. Eine Dame darf nicht so sans façon und ohne Schutz Ausflüge in die Wälder machen - aus verschiedenen Gründen nicht.“

„Ich fürchte mich nicht, Herr – von Boddin.“

Sie wußte nicht, was sie eigentlich verhinderte, ihn Vetter zu nennen. Vielleicht, weil sein Auftreten so etwas halb Väterliches, halb Polizeimäßiges hatte.

„Ich werde mir erlauben, Sie zu begleiten,“ fuhr er fort. „Darf ich Sie bitten, mein Fuhrwerk mit mir zu benutzen? Oder nein –“ unterbrach er sich plötzlich; „entschuldigen Sie einen Augenblick!“ – und er wandte sich ohne weitere Umstände ab, ging zu dem Wagen zurück und sprach ein paar Worte zum Rosselenker, worauf dieser nickte. Die Peitsche knallte; der Schimmel zog an, und das Gefährt rollte vorwärts. Curt von Boddin war bereits wieder auf dem Wege zu dem jungen Mädchen, das ihn mit einem Gemisch von Interesse und Scheu, um nicht zu sagen heimlicher Furcht, erwartete.

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