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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Am Horizont hebt sich eine Insel heraus, ein paar stattliche Gebäude, eine lange Straße niedriger Häuser, ein Landungsdamm, der sich weit in das Wasser hinein erstreckt: die Glocke läutet – wir sind da, verlassen das Schiff und besteigen einen der Wagen, welche bereit stehen, uns zum Conversationshause, dem Curhause von Norderney zu fahren. Neugierige Augen von Kurgästen, denen die Ankunft des Dampfers zu den Zerstreuungen des Badelebens gehört, wie die täglichen Concerte oder ein Feuerwerk, empfangen uns.

Da stehen wir nun inmitten in dem Saisontrouble eines großen Bades es giebt hier zwei „Saisons“, welche durch den Zeitraum von Mitte Juli bis Mitte August, die Zeit der Hitze. Windstille, des ruhigen Wassers getrennt sind. Der Ort selbst zählt über zweitausend Bewohner, und nach Tausenden zählen die jährlichen Besucher. Heuer haben hier gegen 9000 Gäste Stärkung ihrer Gesundheit gesucht. Das Conversationshaus weist alle Einrichtungen auf, welche die Curhäuser großer Bäder bieten; daneben finden sich




Norderney: Blick auf die „Weißen Dünen“.
Originalzeichnung von F. Schreyer.


zwei Warmbadehäuser, der nie fehlende Bazar mit den „Andenken an Norderney“, zahlreiche mehr oder minder gute und theure Hotels und Curhäuser, unter diesen das „große Logirhaus“ beim Conversationshaus, die ehemalige welfische Baderesidenz; da reihen sich jene einstöckigen, bescheiden möblirten Fischerhäuser aneinander, deren Bewohner den Sommer über in der Küche logiren, und sie haben ganz den obligaten Thran- und Räucherduft; da giebt es befrackte Kellner und Tables d’hôte und täglich dreimal Concerte der königlichen Badecapelle, die reichlich so gut spielt wie die Emser; da werden Ausflüge gemacht, Bootfahrten in die Watten, Landpartien, zwei- und vierbeinig, zur Georgshöhe, zum Leuchtturm, zur Schanze, zum Ruppertsburger Kamp mit dem kleinen Erlengehölz zur weißen Düne im Osten der Insel. Da trinkt man Kaffee auf der Marienhöhe, zwischen Herren- und Damenbad, restaurirt sich in der „Giftbude“ über dem Herrenbade, und geht Abends zum Concert vor dem Strand-Etablissement. Aehnlich spielt sich eben der Tag in allen Seebädern ab; sie sind wie eine Mittagstafel; die äußere Physiognomie bleibt die nämliche; nur die Zahl der Gerichte und die Zubereitung sind verschieden, und von dem Mehr oder Weniger, das geboten wird, hängt der Ruf, der Besuch, die Freistellung für die Theilnahme am Genusse ab.

Uebrigens ist der Ort unter den Inselbadeorten der Nordsee bevorzugt ausgestattet. Das Auge weilt hier zur Erholung von dem Blenden des Wassers und des Sandes gern auf dem Grün der Anlagen beim Conversationshause und dem großen Logirhause, und es giebt selbst etwas wie schattige Promenaden für die Sonnengluth. Nur denke man sich keinen imposanten Baumwuchs auf einer nordischen Däneninsel. Auch die festen Trottoirs, welche den Zwang aufheben, von Straße zu Straße bis an die Knöchel im Sande zu waten, empfindet man andern Seebädern gegenüber als eine Wohlthat. Von den drei Hauptstraßen von Norderney zieht sich die Marienstraße im Süden, an der Wattenmeerseite, hin. Vom Conversationshause ostwärts nach der Schanze zu, die Victoriastraße am Weststrand entlang vom Conversationshause bis zur Strandhalle, weiterhin noch die Kaiserstraße, an deren Ende die Bremer Baugesellschaft Wohnungen „gegründet“ hat. Das Strand-Etablissement ist das elegantere Seitenstück zum Conversationshause. Hinter der Marien- und der Victoriastraße dehnt sich ein Gewirr von Häusern und Gärtchen mit zahllosen Wetterfahnen und Flaggenstangen aus. In der Nähe des Strandes dagegen erfreuen unter Anderm die heiter auf die See hinausblickenden Villen Kyphosen und Fresena (vergl. S. 644[1]) das Auge des Beschauers.

Von der Marienhöhe bei dem Strand-Establissement schweift das Auge über den zu Füßen liegenden Strand hin, der sieh links nach Südosten, rechts nach Nordosten zurücklegt; jener dient als Damen- dieser als Herrenbadestrand, solange Badezeit ist, nämlich vom frühen Morgen bis zur zweiten Mittagsstunde. Zur Zeit der nun folgenden Ebbe wird alsdann der Strand zur Promenade, bis zu dreihundert Schritt Breite sich erweiternd. Da regt sich munteres

Leben, wenn das zurückweichende Gewoge einen glatten Streifen

  1. Für einen Theil unserer Leser dürfte es nicht ohne Interesse sein, zu erfahren, daß die beiden obigen für die „Gartenlaube“ angefertigten Originalzeichnungen in einem gegen das Ende dieses Jahres erscheinenden Bildersammelwerke über Norderney (Braams’ Verlag, Norden) Aufnahme finden werden.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_645.jpg&oldid=- (Version vom 16.10.2022)