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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Alles, was jetzt kommt. Nichts Schöneres als solch ein frisches. fröhliches Soldatenleben, und früher oder später giebt’s gewiß auch einen Krieg. Da müßtest Du dabei sein, Siegmund! Wenn ich Dich so ansehe, den Prächtigsten auf der ganzen Welt, will es mir nicht in den Kopf, daß Du nichts weiter verrichten sollst, als Clavierspielen und Noten kritzeln. Nimm’s mir nicht übel – ich höre Dir ja für mein Leben gerne zu, aber so Einer wie Du müßte Soldat werden!“

„Du meinst?“ sagte Siegmund, indem er seinen Freund einen Augenblick ernsthaft ansah. Dann stand er auf. Die hohe, fest aufgebaute Gestalt, der edel schöne Kopf gaben seiner Erscheinung trotz ihrer Jugendlichkeit etwas Imposantes, Etwas, dem der von Max gebrauchte Ausdruck entsprach: er sei „der Prächtigste“.

Noch heute war der elastische Körper fein und schlank, aber die Nervosität des Knaben war geschmeidiger Kraft gewichen. In den geistreichen, bald scharf, bald mild blickenden Augen lag viel Festigkeit.

Er blickte schweigend hinab in’s Thal.

„Dazu könnte Rath werden,“ sagte er.

„Was sprichst Du da!“ rief Max, der nun auch aufsprang. „Habe ich recht verstanden? Du wolltest – Du würdest – so sage doch!“

„Ich kann Dir nichts sagen, als daß wir möglicher Weise beisammen bleiben“

Plötzlich erklangen Stimmen von der Höhe. Unwillkürlich blickten beide Freunde gleichzeitig aufwärts. Dann ein leises, silberhelles Lachen, und im nächsten Moment flog eine leichte Gestalt wie ein Vögelchen niederwärts, dem Vorsprung entgegen, der die Ruhebank trug. Die kleinen Füße schienen den Boden kaum zu berühren, bis ein unter ihnen fortgleitender Stein ihren Lauf plötzlich hemmte und das Mädchen auf die Kniee sank.

Siegmund, der nahe stand, sprang hinzu und half der in erster Bestürzung regungslos gebliebenen Kleinen sich zu erheben. Kaum hatte er aber das zarte Figürchen berührt, als es schon federleicht aufgesprungen war. Goldig braune, noch ein wenig erschrockene Augen blickten ihm entgegen. Der allzu rasche Lauf mochte das etwa zwölfjährige Mädchen wohl ein wellig betäubt haben; denn als es wieder aufrecht stand, entglitt der kleinen Hand zuerst ein Genzianenstrauß, dann das Strohhütchen, welches der Kleinen am Arme gehangen. Als Siegmund ihr Beides reichte, sagte sie freundlich:

„O danke! wie ungeschickt ich bin! wenn das Mama gesehen hat!“ Sie warf einen bestürzten Blick hinter sich. „Es war so prächtig, von ganz oben her in einem Zuge herunterzulaufen – wir haben daheim keine Berge. Nur wußt’ ich nicht, daß es hier auf einmal rechtsum geht; wir sind von der Festung her nach dem Aussichtsplatze gekommen – da ist Mama.“

Das zutrauliche Geplauder verstummte, als ein Heer und eine Dame auf dem niederwärts führenden Pfade sichtbar wurden; die Haltung des kleinen Mädchens ward plötzlich eine andere, und die kindliche Grazie verwandelte sich in die Grazie guter Manieren.

„Margarita“ sagte die Näherkommende, ohne im Geringsten die Stimme zu erheben, doch lag etwas in dem Tone, was das Mädchen, sichtlich verschüchtert, dicht an die Seite der Mutter huschen ließ.

Siegmund trat einen Schritt zurück, neben Max, um den Weg frei zu lassen, und beide junge Männer lüfteten den Hut. Während der mit einem Officierspaletot bekleidete Fremde den Gruß durch flüchtige Berührung seiner Mütze gleichgültig erwiderte, hatte der Blick, mit dem die Dame Siegmund gestreift, plötzlich einen eigentümlich forschenden Ausdruck angenommen, der ihn zu befragen schien: wer bist Du?

Seine Augen hafteten während der kurzen Zeit des Vorübergehens auf diesem ihm völlig fremden, nicht jugendlichen, aber schönen Gesichte, das so kalt aussah und ihm doch etwas zu sagen schien, das er nicht verstand.

„Kennst Du diese stolze Semiramis?“ fragte Max sehr erstaunt, nachdem die Gruppe der Fremden aus dem Gesichtskreise der jungen Leute verschwunden war.

„Nein,“ erwiderte Siegmund, dessen ernste Augen noch immer in die gleiche Richtung hinausträumten.

„Um so sicherer kennt sie Dich. Wie sie Dich betrachtete! Mir schien sie wechselte sogar die Farbe.“

„Ich kenne sie nicht,“ wiederholte Siegmund und warf den Kopf zurück, wie es seine Art war, wenn er Störendes abschütteln wollte. „Hoffentlich ist es kein böser Blick gewesen!“ fügte er lächelnd hinzu.

„Oder das kleine holde Ding hat für den bösen Zauber einen Gegenzauber gestiftet“ scherzte Max; „er hängt Dir in sichtbarer Gestalt ganz dicht am Herzen.“

Siegmund’s Blick folgte demjenigen des Freundes und – siehe da! eine tiefblaue Genziane, die sich aus dem Strauße des Kindes gelöst hatte, war an einem Knopfe seines Ueberziehers hängen geblieben.

„Die blaue Blume!“ sagte er heiter, indem er das Zweiglein im Knopfloche befestigte. „Sie soll mir Glück bringen, wenigstes für den heutigen Abend.“ – – –

Der heutige Abend – es wäre schwer zu sagen, wer ihm mit größerer Erregung entgegensah: Meister oder Schüler. Obgleich guter Erfolg für den sorgfältig vorbereiteten, sehr talentirten Debütanten in ziemlich sicherer Aussicht stand, war und blieb doch Siegmund ein Neuling und sollte sich vor einem Publicum bewähren, das nicht nur gewohnt war, feine und scharfe Kritik zu üben, sondern voraussichtlich an den außer der Competenz des Institutes Stehende besonders strengen Maßstab anlegen würde; denn Siegmund gehörte nicht zu den eingereihten Schülern des Instituts und hatte nur dann und wann, bei Anlaß der intimen Aufführungen, einen kleinen Part durchgeführt. Der Beschluß, daß er vor Ende seiner Gymnasialjahre nicht öffentlich auftreten solle, war streng aufrecht erhalten worden.

Fügen nahm heute seinen Tactstock mit innerlicher Unruhe zur Hand und bedurfte einer gewissen Willensanstrengung, um den ersten Theil des Programms, an dem Siegmund keinen Antheil hatte, mit gewohnter Sicherheit zu dirigiren; denn seine Gedanken eilten diesem Theile voraus, dem Momente entgegen, wo Siegmund’s Debüt beginnen sollte.

Der junge Künstler begab sich erst spät, als die Zeit seines Auftretens heranrückte, in das Nebenzimmer des Saales, welches für die Musiker reservirt war. Die Pause war beinahe zu Ende. Fügen eilte dem jungen Manne hastig entgegen.

„Wo bleibst Du?“ rief er vorwurfsvoll.

„Was soll ich hier?“ sagte Siegmund. „Zuhören?“

„Bist Du in Stimmung? Gieb mir einmal Deine Hand! Keine kalten Finger – gut!“

Der junge Mann lächelte, trat an die Verbindungsthür und warf einen Blick in den bis zum letzten Platz gefüllten Saal. Sein scharfes Auge durchforschte die erste Sitzreihe links; dort pflegte auswärtigen Gäste von Rang der Platz angewiesen zu werden. Ein Schatten von Enttäuschung ging über sein ausdrucksvolles Gesicht; fast in demselben Moment empfand er aber, wie sonderbar es sei, daß er in dieser Stunde, welche er zu den wichtigsten Perioden seines Lebens rechnete, nach Fremden ausgeschaut. Und nun erschien es ihm als unbegreifliche Kinderei, daß er dem Scherzworte des Freundes Folge gegeben und die Genziane des Nachmittags wirklich gleich einem Talisman bei sich trug. Im Begriff die halbwelke Blume abzustreifen, erfaßte ihn plötzliche Zerstreuung. Er wähnte zwei Augen auf sich gerichtet zu sehen – das waren aber nicht die braunen lachenden Augen des Kindes, sondern die forschenden tiefblauen Augen der Frau welche ihm heute begegnet.

Das Anklingen einer Saite hinter ihm rief alle Träumereien zur Ordnung. Siegmund’s Partner, der Violonist, gab sich das „La“ an.

„Vorwärts!“ sagte Fügen, im Begriff, an sein Pult zurückzukehren, um das sich die Orchestermitglieder schon geschaart.

Die drei Solisten folgten ihm auf dem Fuße. Als Siegmund sich vor dem Publicum verbeugte, fühlte er sich merkwürdig ruhig und erwartete ganz gelassen den Moment, wo der erste Accord des Flügels einzugreifen hatte. Seine Augen schweiften noch einmal über den Saal hin; er fühlte sich vollkommen Heer seiner selbst, und die Fähigkeit, sich zu concentriren, welche eine seiner individuellsten Eigenschaften war, verbannte jeden Rest von Aufregung. So begann er also muthig die ihm für heute Abend gestellte Aufgabe, und sobald er die Tasten berührt hatte, vertiefte er sich ganz und gar in sein Spiel.

Fügen’s neues Werk brachte die ihm eigene Begabung entschiedener zum Ausdruck, als irgend eine seiner früheren Compositionen.

Schon die romanzenartige Melodie des ersten Satzes, in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 602. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_602.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)