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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

zu ergreifen, während er aber sonst jedes Couvert aufzureißen pflegte, prüfte er dieses so genau, als wäre noch etwas anderes viel Bedeutsameres darauf verzeichnet als sein eigener Name; er griff dann nach der Scheere, um es behutsam am Rande zu durchschneiden. Seine Brauen bewegten sich, indem er das dichtbeschriebene Blatt entfaltete. Lange, lange hatte er die Züge dieser Hand nicht mehr erschaut.

Gleichsam in Uebereinstimmung mit seinen Gedanken begann Genoveva’s Brief in gleichem Sinne:

„Auf der Moosburg, October 1857.

Jahre sind vergangen, seit wir zuletzt von einander gehört, lieber Freund. Sicher gab es Gründe, welche Ihnen versagten, uns durch ein Wiedersehen zu erfreuen, obgleich Sie uns seit einiger Zeit nahe leben. Ihrer Gesinnung bin ich so sicher, daß ich Sie heute unbedenklich frage, ob Sie sich des Wortes noch entsinnen, welches Sie einst zu mir gesprochen: Sie wären bereit, Alles für meinen Siegmund zu thun? Damals antwortete ich Ihnen, daß ich Sie vielleicht einmal hieran erinnern würde. Es ist lange her, acht Jahre – aber Raum und Zeit ist keine Schranke zwischen Freunden, und ich spreche darum ohne Rückhalt.

Siegmund hat sein dreizehntes Jahr zurückgelegt, bis jetzt an meiner Seite. Ernste Gründe gebieten mir nun, ihn von mir zu geben. Ich wünsche nicht nur ihn eines weiteren, freieren Athemzuges theilhaftig werden zu lassen, sondern habe für die nächsten Jahre selbst einen Weg vor mir, auf dem mein Sohn mich nicht begleiten kann. Während dieser Zeit möchte ich ihn der Leitung eines Mannes anvertrauen, auf den ich mich in jedem Sinne verlassen darf, und ich kenne einen solchen Mann. Würden Sie, mein Freund, sich entschließen, Siegmund bis nach seiner vollendeten Berufsausbildung in Ihr Haus zu nehmen, ihm Schutz und Führung zu gönnen, als sei er Ihr eigener Sohn? Ich wäre dann ruhig.

Ich blieb nie ohne Kenntniß Ihres Aufenthaltsortes und Ergehens. Ich weiß, daß Sie unverheirathet geblieben; doch haben Sie sich ein Heimwesen gestaltet, genießen einer festbegründeten bürgerlichen Stellung und haben bleibende Stätte. Unter solchen Verhältnissen steht die Aufnahme eines jugendlichen Haus- und Lebensgenossen nicht außer Frage.

Sollte mein Vorschlag Ihnen dennoch störend sein, so rechne ich auf die Offenheit, welche Freunde einander schuldig sind. Siegmund folgt in diesem Falle seinem bisheriger Hofmeister nach Wien. Stimmen Sie zu, so wünsche ich Ihnen meinen Sohn selbst vorzustellen; erst dann, wenn Sie sich überzeugt, ob der Knabe Ihnen dieselbe Sympathie weckt, welche das Kind Ihnen abgewann, verabreden wir Weiteres.

Ich stelle es in Ihre Entscheidung, ob Sie uns in S. erwarten oder uns auf der Moosburg besuchen wollen.

Auch in dem Falle, daß Sie Gründe wider meinen Vorschlag haben, wäre es mir, wie uns Allen, sehr erwünscht, Sie hier zu sehen. Sie finden Menschen und Dinge so unverändert, wie dies nach Verlauf von Jahren überhaupt möglich ist, unverändert vor Allem das herzliche Gedenken an gemeinschaftlich verlebte Zeit.

Genoveva Riedegg.“

Fügen saß eine ganze Weile regungslos da; er hatte den Kopf auf die linke Hand gestützt, während die rechte durch den Haarbusch fuhr und dort, als Signalement für ein scharfes Gefecht hinter der Stirn, das übliche Chaos anrichtete.

Resi, die vorhin zu ihrem Schrecken den Hausherrn über den Notenblättern gefunden, welche ihren fertigen Mahlzeiten oft genug verderbliche Concurrenz machten, hatte eiligst ihre Schüsseln aufgetragen, als sie sah, daß er den Brief zur Hand nahm. Zweimal war aber die Meldung: „Es ist angerichtet, Herr Capellmeister,“ an dem achtlosen Ohre verhallt. Jetzt räusperte sie sich kräftig und sagte, als auch diese Mahnung erfolglos blieb, im Ton einer schwer gekränkter Seele: „Das Gebachene wird kalt. Es ist angerichtet, gnä’ Heer.“

Er wendete den Kopf. Ein Freudenblitz schoß aus seinen Augen; wie ein Jüngling sprang er aus, faßte die alte Person an beiden Schultern und drehte sich um und um. „Hurrah, Resi! Wir kriegen einen Sohn.“

„Was wär denn das?“ rief die Alte mit weit aufgerissenen Augen und vergaß nun selbst auch ihr „Gebachenes“.

„Einen Sohn!“ wiederholte Fügen, und all die kleinen Fältchen um seinen Mund regten und rührten sich. „Bring’ Sie mir meinen Ueberzieher! Ich will gleich um Urlaub nachsuchen – morgen oder längstens übermorgen geht’s fort.“

„Urlaub nachsuchen? Jetzt? Bei nachtschlafender Zeit? Den Rock hab’ ich zum Trocknen aufgehängt; der tropft wie eine Dachrinne, und ’s Essen steht auf dem Tisch, und die Herren sind um diese Zeit allesammt beim Wein.“

Das leuchtete dem Eifrigen ein; richtig, bis morgen früh mußte man warten. Er setzte sich an den Eßtisch und sprach lebhaft weiter, während Resi die Schüsseln abdeckelte.

„Ich verreise also nächster Tage, so für eine Woche denke ich. Dann wird Sie schon sehen, wen ich mit heimbringe.“

„Ist’s wirklich und wahrhaftig Ihr Sohn?“ fragte sie mißtrauisch. „Hab’ doch nie vernommen, daß der Heer Capellmeister ein Wittiber wäre.“

Er schüttelte lachend den Kopf.

„Das grüne Gastzimmer thut’s, aber es muß noch allerhand hinein! Morgen geht Sie einkaufen – ein nettes Bücherschränkel und ein Schreibpult und was sonst fehlen möchte. Und daß Sie mir alles schön ausputzt! Es muß ganz schmuck ausschauen und so recht behaglich. Keine Sparerei, wie Sie das gern prakticirt, alles Nummer Eins!“

„Na, na, nur stat! Das ist mir ja ein absonderlicher Gast, für den so mit allen Glocken geläutet werden soll,“ staunte die Alte und füllte das mit einem Zuge geleerte Kelchglas des Herrn auf’s Neue mit rothem Tiroler.

„Kein Gast!“ Er ward plötzlich schweigsam und versank in heiteres Sinnen. Das süße, sinnige Kindergesicht tauchte wie leibhaftig vor ihm auf, und zugleich Bild nach Bild aus unvergeßlichen Zeiten. Nichts Störendes mischte sich in die Freude, welche ihm die Adern durchströmte wie feuriger Wein. Ist es doch eines der größten Geschenke, welche die Zeit dem Menschen gönnt, daß sie alles Dunkle verzehrt, jedes Fünkchen Licht aber hell entfacht und verklärt. Das Vergangene glänzt. Was an Trübem, Leidenschaftlichem darin gährte, verrinnt in jenen Strom, welcher all unser Erlebtes aufnimmt, wie Bäche, die ihn verstärken. Es ward Fügen zu Muthe, als sei er plötzlich mit einer großen Gabe beschenkt worden; seine Zusammengehörigkeit mit den Menschen, welche ihm unter Allen, denen er je begegnet, die Bedeutendsten geworden, kam ihm stark zum Bewußtsein. Seit er von ihnen geschieden, war eine Reihe von reich ausgefüllten Jahren an ihm vorübergegangen, aber keines derselben hatte ihm Stunden gebracht, wie er sie auf der Moosburg verlebt. Das stand einzeln, mit nichts vergleichbar in seiner Erinnerung. Lange hatte er sich mit dem heftigen Zuge, dorthin zurückzukehren, herumgeschlagen. Auch dies kam zur Ruhe, doch blieb eine Lücke übrig, deren er sich endlich kaum mehr bewußt gewesen, die ihm erst heute, als sie sich füllte, deutlich fühlbar ward. Acht Jahre! Zeit genug, jeden Rausch zu beschwichtigen; weit mehr Zeit, als nöthig, ihn bis zum letzten Hauche verfliegen zu machen, wenn es nur ein Rausch gewesen. Jede wahre Leidenschaft birgt aber Besseres, als nur den Hang nach Befriedigung; etwas von dem Mitgefühl, welches sich der gesammten Menschheit gegenüber Erbarmen nennt, wächst sich im Herzen fest und läßt den Funken nicht sterben. War Genoveva’s ferne Gestalt neuerdings vor ihm angestiegen, so sprach sein Empfinden nur noch das eine Wort: Könnte ich Dir helfen!

Daß sie seiner jetzt wirklich bedurfte, sich ihm zuwandte, als es solches Bedürfen galt, erfüllte ihn mit Stolz und Freude. Voll Spannung dachte er, wie Siegmund sich entwickelt haben würde; aus dem interessanten Kinde mußte ein Knabe erwachsen sein, mit dem zu leben sich’s verlohnte. Bei dieser Vorstellung ward dem Einsamen warm und wohl. Die freudig angeregten Gedanken schweiften den nächsten Tagen voraus. Wie er wohl Alles auf der Moosburg finden würde? Unverändert – schrieb Genoveva. Kaum denkbar! „Die Kinder sind doch älter, und wir Andern wahrhaftig nicht jünger geworden – Jana?“ Er lächelte dem feinen Blumengesichte in Gedanken zu. Das war inzwischen wohl verblüht; sie mußte nun beinahe Dreißig zählen, wesentlich verändert konnte er sie sich aber wirklich nicht vorstellen – auch Lois, ihren Bruder, nicht. Maxi aber und vor Allem Siegmund! An diesem blieben seine Gedanken haften, die ihn bereits als Eigenthum ergriffen hatten; die sonnigen blauen Augen folgten ihm bis in die Träume der Nacht.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 570. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_570.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)