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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Wage im Gleichgewicht zu halten, für den kommen in bestimmten Punkten schlimme Abrechnungstermine. Keine chemische Reaction tritt genauer und pünktlicher ein, als die Erkenntniß gewandelter Irrwege, und sie pflegt um so überwältigender zu sein, je länger man sich geflissentlich die Augen davor verschlossen hatte.

Eine solche Abrechnungsstunde mit sehr bitteren Erkenntnissen hatte hier an diesem eleganten, lachenden Vergnügungsorte auf die schöne Frau gewartet, welche spät am Abend, in einen dunklen Mantel eingehüllt, einsam unter den großen Ziersträuchern seitwärts von der Terrasse saß. Es war sehr finster in dieser Ecke des Gartens; sie rührte sich nicht und sah auch nicht hinüber zu dem erleuchteten Pavillon, wo ihr Gatte mit ein paar Andern phlegmatisch und gründlich seinen Robber Whist machte – sie blickte gedankenvoll vor sich hin, und es war ihr heute Abend noch viel banger zu Muthe, als Mittags bei Tisch.


Die neue Grabcapelle Kant’s in Königsberg.
Originalzeichnung von O. Weinberg in Königsberg.


Was vor ihr war, verschwand; ihre Gedanken gingen rückwärts in die Vergangenheit, und sie sah ihre früheren Wege ganz deutlich vor sich liegen, und ganz deutlich sagte sie sich zum ersten Male, daß es falsche Wege waren, die sie gewandelt.

O, jene Tage in Venedig, als sie noch frei war und ihr Schicksal in der eigenen Hand hielt – mit wie viel Jahren ihres Lebens hätte sie jene Zeiten zurückkaufen mögen!

Was war darauf gefolgt? Eine kurze Satisfaction bei der Rückkehr nach W… als die Braut des reichen Mannes – und dann?!

… Es waren schlimme Erinnerungen; die Stirn, welche diese Erinnerungen dachte, furchte sich tief, und der Athem ging gepreßt durch die blassen Lippen Leontinens. Erniedrigung, die schlimmste von allen … vergebliches Uebertäuben mit Glanz und Reichthum … tägliche und stündliche Heuchelei und dabei ein Gefühl im Innern, ein Gefühl der Oede und Leere, so riesengroß, daß jeder Lebensgenuß angesichts dieses Gefühls schon von ferne verdorrte und es sich ringsum wie eine Wüste ausdehnte, weit, trostlos unermeßlich!

… Wo waren die „Genüsse des Reichthums“ geblieben? Wo Freiheit, Kunst, Gesellschaft bedeutender Menschen?

Sie dürstete nach dem freien, glänzenden Leben, welches ihr das ungeheure Opfer ihrer Person hatte verschaffen sollen, und sah nun mit Entsetzen, daß es ihr nur Möbel, Kleider und eine Equipage verschafft hatte.

In dieser finsteren Abendstunde ging ihr plötzlich die Ahnung auf, daß es doch so etwas geben möge, wie moralische Naturgesetze, gegen welche man nicht ungestraft frevelt; sie mußte mit ihrer ganzen ferneren Existenz die Erkenntniß bezahlen, daß das Leben kein Rechenexempel ist und die Ehe ohne Liebe Abscheu und Gräuel.

Sie legte den Kopf in die stützende Hand und stöhnte tief und verzweiflungsvoll …


Wie lange sie so gesessen, wußte sie nicht, als nahende Stimmen an ihr Ohr schlugen. Ein Frauenkleid rauschte zu dem Männertritt. Leontine brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, wer hier noch im Garten lustwandelte und jetzt in die kleine Laube zu ihrer Linken, von welcher sie nur der Jasminstrauch trennte, eintrat. Krampfhaft umklammerte ihre Hand die Stuhllehne; aufstehen konnte sie nicht, ohne gesehen zu werden. Sie wollte es auch nicht; es lohte in ihrer Seele auf mit dämonischem Verlangen, jetzt, gleich jetzt zu wissen, ob sie allein elend sei. Mit eigenen Ohren wollte sie hören, wie die Beiden mit einander sprachen, wenn sie unbeobachtet waren; sie kannte den Ton seiner Liebe, und es wäre ihr Labsal gewesen, wie dem Verschmachtenden am Kreuze ein Tropfen Wasser, jetzt gleichgültige Worte, zu seinem Weibe gesprochen, aus Erich’s Münde zu hören.

Es blieb einige Augenblicke ganz still.

Leontine bog vorsichtig einen Zweig zurück und sah durch die schmale Blätterlücke im dämmernden Zwielicht den Kopf der jungen Frau, der an des Mannes Schulter lehnte, während seine Hand liebkosend über ihre braunen wolligen Haare strich.

„Bist Du nun beruhigt, Liebchen?“ hörte sie ihn fragen.

„Ja, Du Schlimmer!“ sagte Ninette zärtlich und streifte mit den Lippen flüchtig seine Hand. „Ach, wenn Du wüßtest, was ich heute dort drinnen im Saal gelitten habe! Kein Mann weiß es, wie eine Frau sich um ihn grämen kann.“

„Besonders, wenn sie sich umsonst grämt,“ versetzte er heiter. „Es geschieht Dir eigentlich ganz Recht, warum glaubst Du nicht, daß Du mir das Liebste auf der Welt bist?“

„O Erich,“ sagte sie und schloß den geliebten Mann in ihre Arme, „ich könnte nicht mehr leben ohne Dich, und Niemand, Niemand auf Erden könnte Dich so lieben wie ich. Wo Du bist, ist mir wohl, und glücklicher bin ich nicht in unserem neuen schönen Hause in B., als in der verfallenen kleinen Loggia am Canal, wo wir mein selbstgekochtes Essen verzehrten, wenn Du aufhörtest am Titian zu malen, und uns zum Nachtisch küßten. Weißt Du noch?“

„Laß sehen!“ sagte er mit verlangender Zärtlichkeit und neigte seine Lippen zu den ihren. „Ist der Kuß wohl noch eben so süß wie damals?“ –

Die blasse Lauscherin hinter dem Fliederstrauch fühlte in diesem Augenblick einen Dolchstoß im Herzen. Nun wußte sie, was sie wissen wollte! Das war Glück. Dasselbe Glück, welches sie einstmals so sehnsüchtig geträumt und dann in ihren Armen gehalten und aus feiger Kleinheit verleugnet und weggeworfen hatte.

Sie bedeckte die trockenen heißen Augen mit der Hand.

„Erich,“ hörte sie die junge Frau nochmals mit ihrer weichen Betonung sagen, „wie ist es doch nur möglich, daß Dein Herz sich so gewendet? Damals, im Anfang, kanntest Du mich doch auch schon und achtetest gar nicht auf mich – warst Du denn ganz verzaubert?“


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_497.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)