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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 29.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Meinhard hielt sein Pferd an.

„Welcher Friede!“ sagte er tiefaufathmend. „Hier müssen alle Stürme schweigen“

„Weißt Du schon, daß der Platz uns jetzt zu eigen gehört?“ fragte Ottilie.

„Wie das?“

„Ja,“ sagte sie mit dem herben, geringschätzigen Klange, dessen ihr helles Organ mitunter fähig war. „Lichtenwerde’s dachten in allem Ernst daran, die Ruinen ihres Stammhauses an den nächsten Besten zu veräußern. Als Großpapa erfuhr, daß ein Unterhändler ihnen im fremden Auftrage ein Angebot auf den Platz gethan, und daß sie Willens wären, sich darauf einzulassen, kam er durch eigenen Ankauf jeder Möglichkeit unberufener Nachbarschaft zuvor. Diesmal wäre übrigens auch sonst nichts daraus geworden; Lichtenwerde’s hatten mit jenen Leuten sofort abgebrochen, als sie Näheres erfuhren. Es waren Protestanten.“

„Deshalb abgebrochen?“ sagte Meinhard mit Betonung.

Ottilie sah ihn erstaunt an.

„Man wird doch nicht zugeben. daß sich Protestanten hier ansässig machen?“

Ein rasches Wort zuckte auf seinen Lippen, doch sprach er es nicht aus. Wie hatte ihn befremden können, was er wußte, zu gut wußte? Er war in Tirol! Die Farbe kam und ging in seinem bewegten Gesicht. Schweigend ritt er dem Kirchlein zu, um dort abzusteigen und sein Pferd an den Baum festzubinden.

Der Reiter war eben im Begriff aus dem Sattel zu springen, als sich die Kirchenpforte unversehens von innen öffnete und eine unförmliche Gestalt auf deren Schwelle erschien. Das Pferd stutzte, bäumte sich hoch auf und wendete sich jäh. Ein Aufkreischen durchschnitt die Luft. Der lose gehaltene Zügel war der Hand des Reiters entfallen; das Pferd, von dem schrillen Laute, der so unmittelbar vor seinen Ohren ertönte, noch mehr erschreckt, bäumte sich abermals. Meinhard glitt aus dem Sattel; sein Haupt schlug im Niederstürzen gegen einen Baumstamm und sank schwer zu Boden, während sein linker Fuß noch im Bügel hing. Das aufgeregte Thier schleifte den widerstandslosen Körper zwei, drei Schritte weit, stand darauf still, senkte den Kopf zu seinem Herrn nieder und beschnoberte dessen Gesicht.

Es war das Werk eines Momentes. Ottilie starrte dorthin, als zöge ein furchtbares Traumbild lähmend an ihren Sinnen vorüber. Erst dann, als gellendes Gekreisch von Neuem an ihr Ohr drang, überkam sie das Bewußtsein eines Wirklichen, und löst die Starrheit ihrer Glieder. Wie durch einen Nebel sah sie, während sie von ihrem Maulthier niederglitt, ein altes Weib die hochaufgethürmte Luft frischgemähten Grases vom Rücken abwerfen und mit fortwährenden Jammerrufen den Fuß des Unglücklichen aus dem Bügel befreien. Ottilie stürzte hinzu, warf sich neben dem Regungslosen zu Boden und schloß einen Moment die Augen, als sie aus den todtblassen Schläfen Tropfen um Tropfen niederrinnen sah. Nur eine Secunde lang ließ sie sich vom Entsetzen überwältigen; in der nächsten schon faltete sie mit fliegender Hand ihr Tuch und band es über Gras und Blätter, womit die Alte das Blut zu hemmen suchte. Nicht das leiseste Lebenszeichen antwortete ihrem erstickten Zuruf, ihrem Druck der schlaffen Hände. Als der nothdürftige Verband befestigt war, hob das Kind das stumme Haupt des Vaters in ihren Schooß und mühsam drang der erste verständliche Laut aus ihrer zusammengeschnürten Kehle:

„Hülfe, holt Hülfe!“

Die Alte nickte nur; wußte sie auch kaum, daß sie selbst die unheilvolle Ursache des Geschehenen gewesen, so war sie doch ganz fassungslos. So eilig ihre zitternden Beine es vermochten, humpelte sie den Fußpfad entlang, der dem nächsten Einödhofe zuführte.

Als sie zwischen den Tannen verschwunden war, regte sich nichts mehr. Ottilie blieb allein mit dem Vater. Sollte wirklich nie mehr ein Hauch des Lebens die Lippen bewegen, welche eben noch zu ihr gesprochen? Dieses Auge, dessen heller Strahl des Kindes Herz erwärmt hatte bis in seine Tiefen, sollte es dem ihren nie mehr begegnen? Jammer und Grauen überwältigte die junge Seele; ihr war sterbensbange, und zum ersten Male begriff sie den Tod. Die Mutter war ja gleich einem Schatten durch das Leben gegangen, gleich einem Schatten auch aus dem Leben verschwunden. Sie beugte den Kopf und drückte die Wange gegen das geliebte, blutüberströmte Haupt. Sie saß regungslos, den Rücken gegen die Kirchenmauer gelehnt, vom Laub der Kastanie überschattet, an deren Stamme ihr Theuerstes zerschellt worden. Ihre Augen hingen unverwandt an dem in ihrem Schooße gebetteten Haupte; das Ohr spannte sich bis zum Schmerze im Lauschen auf einen schwachen Lebenshauch, den es, ach! nicht vernahm.

Rings war es still, die Thiere grasten, kein leisester Laut weit und breit – so still ist’s im Grabe. Da begann eine Amsel dicht über der Verlassenen zu schlagen, und plötzlich stürzte ihr ein Strom von Thränen aus den verzweiflungsvollen Augen. Glühende Tropfen sanken auf Meinhard’s Lider und, als hätte der innerste

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 473. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_473.jpg&oldid=- (Version vom 12.1.2021)