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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

wurzelte seine Festigkeit nicht hierin, sondern im Willen, während sein durchdringender Geist den Menschen und Dingen bis auf den Grund blickte und ihm so eine verborgene, selten versagende Macht über dieselben gab. Vollendeter Weltmann, hatte er in seiner Jugend am Wiener Hofe geglänzt, im frühen Mannesalter schon bedeutende Erfolge als Diplomat errungen. Daß sich der Greis in die Einsamkeit seines Schlosses zurückgezogen, war nicht die Folge nachlassender Kraft, sondern die Wirkung des einzigen Schicksalsschlages gewesen, dem sein Bewußtsein nicht gewachsen war. Für jeden Menschen giebt es ein Wesen, dem gegenüber er schwach ist – Graf Raimund war es für seinen ältesten Sohn, in welchem ihm ein Ebenbild erwuchs, mit dem ihn jene starke Liebe gleichgestimmter Individualitäten verband, welche selbst dann, wenn sie zusammenstoßen wie Stahl und Stein, nur den im Kiesel verschlossenen Funken weckt. Jede Kraft, die er selbst besaß, entfaltete sich auch im Stammhalter: Scharfblick, Menschenkenntniß, die Gabe zu regieren. Auf Jahrhunderte hinaus dachte er sich so die nachfolgenden Generationen seines Geschlechtes, einer Eiche gleich, die auf freier Höhe steht, mit den Wurzeln tief in den Boden hinabsteigt, die Schatten der mächtigen Krone weithin breitet. Solche Kronen aber trifft mitunter der Blitz.

Graf Wolf fiel im Alter von fünfundzwanzig Jahren im Duell, als er eben im Begriff war, sich zu vermählen. Der Rückschlag auf den Vater wirkte zerschmetternd. Er mochte einer Welt nicht mehr genießen, die ihm fortan keinen Ausblick auf die Zukunft bot, und zog sich mit seiner Familie nach Riedegg zurück.

Noch lebte ihm ein Erbe seines Namens und Stammes. Der seinem Bruder um sechs Jahre nachgeborene Meinhard war aber zu spät gekommen; alles, was das kalt-leidenschaftliche Herz des Vaters auszugeben hatte, gehörte bereits dem Andern, dem Stärkeren, Glänzenderen. Der Jüngere blieb seiner Mutter überlassen, einer zartbesaiteten, verschüchterten Natur, deren Seele voll Liebe und Furcht an ihrem Gatten hing, stets bemüht, die Höhe beider Gefühle vor ihm zu verbergen, und der Alleinbesitz des Knaben ward zum schmerzlich süßen Glück ihres entbehrungsreichen Daseins.

Menschen von Graf Raimund’s Schlage sind nur gegen die gerecht, welche sie lieben. Mutter und Sohn standen ihrem ganzen Wesen nach für ihn gleichsam auf einem andern Ufer. Nachdem ihn das Leben so furchtbar beraubt hatte, verwandelte sich diese Gleichgültigkeit in ein Gefühl, das an Abneigung grenzte.

Meinhard, welcher, als sein Bruder starb, aus der Universität weilte, wohin er unter Obhut des Caplans gesendet worden, dem zuvor seine Hauserziehung anvertraut gewesen, ward ein halbes Jahr später vom Vater nach Riedegg berufen. Mit prüfendem Blick forschte der alte Staatsmann nach einem Boden für neue Saat, aber bald sagte er sich in tiefem Mißmut, daß er seinen jüngsten Sohn dennoch zu oberflächlich beurtheilt und daß es heute zu spät sei, das Versäumte einzubringen: Was er als unüberwindlich erkannte, war keineswegs die erwartete Mittelmäßigkeit, sondern ein theils angeborener, theils durch den Einfluß der Mutter in jeden Nerv übertragener Idealismus. Der Vater sah scharf und klar, daß es ihm nie gelingen würde, dem Sohn etwas von seiner eigenen Kraft mitzuteilen. Dies ward ihm zur Richtschnur: der nicht sein Zögling sein konnte, mußte sein Abhängiger bleiben.

Ein Jahr nach Wolf’s Tode führte der Zwanzigjährige auf Befehl des Vaters die verwittwete Braut seines Bruders zum Altar, obgleich er wußte, daß Jene einzig das Bild des Todten im Herzen trug. Der „Träumer“ war nicht dazu geartet, eine hervorragende Rolle auf der Weltbühne zu spielen; deshalb zog das Familienhaupt vor, ihn dort überhaupt nicht auftreten zu lassen. Graf Raimund’s letztes Hoffen richtete sich auf die Zukunft – noch fühlte er Lebenskraft genug in sich, um dem Stammhalter, welchen er von dieser Zukunft erwartete, etwas von seinem Geiste einzuimpfen. Aber auch diese Hoffnung schlug fehl. Die Ehe des jungen Paares blieb lange kinderlos, und nachdem Gräfin Blanka im fünften Jahre ihrer Verbindung mit Meinhard diesem eine Tochter geschenkt, siechte sie hin, ohne sich wieder erholen zu können. Die kleine Ottilie hatte eben ihr zwölftes Jahr angetreten, als der schwache Hauch ihrer Mutter erlosch, fast zu derselben Zeit, als auch Meinhard’s Mutter die müden Augen schloß, und nun überkam diesen eine unsägliche Schwermut, die mit jeder Woche, jedem Monat wuchs, bis sich endlich Alles, was Gesundheit in ihm war, gegen diesen kranken Zustand wehrte.

Eines Tages – es mochte ein halbes Jahr seit den Trauerfällen vergangen sein – sprach er seinem Vater den Entschluß aus, zu reisen, die Welt zu sehen, ein Verlangen, das vom alten Grafen mit Befriedigung vernommen wurde. Endlich doch einmal ein Wille, eine Initiative!

Es war der Wunsch Graf Raimund’s gewesen, den Sohn für eine zweite Ehe zu stimmen; er rüstete ihn mit Empfehlungsbriefen an alle Höfe Europas aus und stellte ihm unbeschrankte Mittel zur Disposition. In der Stunde des Scheidens machte er es ihm nachdrücklich zur Pflicht, nicht heimzukehren, ehe er eine zweite Wahl getroffen.

Zwei Jahre waren vergangen und darüber. Nun kehrte der Erbe des Hauses zurück – aber allein. Mit einer Vorsicht, die weder seinem starrköpfigen Temperament, noch seinen autokratischen Gewohnheiten entsprach, vermied der alle Graf zunächst jede Berührung der für ihn brennenden Frage. Seinem Scharfblicke bestätigte sich, trotz der ersten mißmuthigen Regung über des Sohnes „Phantasterei“, mehr und mehr der Eindruck, daß mit Meinhard etwas vorgegangen sei. Er harrte auf eine Eröffnung. Daß solche bevorstand, lag ihm außer Zweifel, aber welcher Art sie sein würde, ließ sich nicht berechnen. Scharf beobachtend, bedächtig sondirend, wartete er und notirte jeden Widerspruch, der ihm bei den Berichten des Sohnes auffiel, schweigsam im Kopfe.

An solchen Widersprüchen fehlte es nicht. Während Meinhard im Anschlusse an frühere Briefe lebendig und präcis auf die Erlebnisse seines ersten, im Auslande zugebrachten Reisejahres einging, glitt er mit kaum verhehlter Absichtlichkeit rasch über die Gründe hinweg, welche ihn später zur Abkürzung des Wiener Aufenthaltes, zur abermaligen Reise nach Italien veranlaßt hatten. Was er aber auch zurückhalte mochte, Eines ergab sich aus seiner ganzen Art: daß ein Anderer heimgekehrt, als der vor wenigen Jahren in die Fremde gezogen. Mit nie geübter Freimüthigkeit, die während seiner Kindheit durch Furcht, später durch Gewöhnung des Schweigens erstickt worden, ließ er nun seinem ursprünglichen Wesen vollen Lauf.

Echte Liebenswürdigkeit gleicht der Sonne; es geht eine Wärme von ihr aus, die jedes Eis aufthaut Zum ersten Mal regte sich in Graf Raimund etwas wie Vaterstolz dem Sohne gegenüber. Wie in jenem Märchen vom steinernen Reiche alles Lebende aus der Versteinerung erwacht, sobald der Erlöser es betreten und der erste Morgensonnenstrahl es berührt, war ein fröhliches Regen und Treiben über Riedegg gekommen. Heiter thaten alle Diener ihre tägliche Pflicht, der ein freundliches Wort des jungen Gebieters Reiz gab. Nirgends war die Ordnung unterbrochen, aber in die starre Regelmäßigkeit war ein Wohlbehagen gekommen, das ihr gleichsam einen frischeren Pulsschlag verlieh. Selbst Mademoiselle, die personificirte Regel, gab ohne Bemerkung nach, als der Vater sich zunächst volle Ferienfreiheit Ottiliens bedingte.

Die Harmonie dieser Stimmungen warf ihren Glanz vor Allem auf die junge Tochter des Hauses. Ottilie war wie verwandelt. In dieser spröden Kindesnatur machte sich etwas Lauschendes geltend, ihre Augen und Gedanken trennten sich nicht mehr von der lieben Gestalt, die gleichsam als ein Neues in ihr Leben getreten; jeder Strahl von des Vaters anmutiger Intelligenz wurde begierig von ihr aufgesogen. Fühlte sie, daß er voll heimlicher Dringlichkeit um sie warb, daß er sehnsüchtig danach strebte, ihr volles Verständniß seiner eigensten Natur zu wecken, ihr jene große Liebe einzuflößen, welche Alles giebt und vergiebt?

Ungefähr um die gleiche Stunde, wo Ottilie vor acht Tagen ihren Vater zuerst erblickt, saß Meinhard eines Morgens unter der gleichen Esche, wie damals. Ottilie hatte hier mit ihm eine jener. frühen Tagesstunden verplaudert, zu denen der alte Graf noch nicht sichtbar zu sein pflegte, und war eben in’s Schloß gegangen, um sich zu einem verabredeten gemeinschaftlichen Ausritte zu rüsten Meinhard sah ihr nach, bis die schlanke Gestalt im Thore verschwand, und versank tief in Gedanken. Ein Wort seiner Tochter hatte ihn daran erinnert, daß seit seinem Hiersein eine volle Woche verflossen war. Eine Woche – wie wenig Zeit das ist! Und doch kann in solcher kurzen Reihe von Tagen unendlich viel versäumt, unendlich viel gewonnen werden. Wer sich mit Entschlüssen, ja mit Notwendigkeiten trägt, für den bedeutet eine Woche untätigen Zögerns Unberechenbares. Es geht mit der Zeit zuweilen wie mit einem Menschen, dem man begegnet, dem man Wichtiges

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