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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

geben, aber nicht Alles nehmen. Was in dem fünfzehnjährigen Herzen an Kindlichkeit, Feuer und Glücksbedürfniß nur immer unzerstört geblieben, das wallte heute auf und strömte, blühte der idealen Gestalt entgegen, als welche des Vaters Bild im Innersten dieses Herzens geborgen war.

Die Uhr auf dem westlichen Thürmchen des Schlosses schlug Elf. Noch war der letzte Ton nicht verhallt, als mit jener Pünktlichkeit, mit der jeder Anordnung des alten Grafen Folge geleistet wurde, der zur Einholung des Erwarteten bestimmte Wagen durch das Portal rollte und bald auf dem Fahrwege zwischen den Föhren verschwand, welche sich auf dem Kamm des Schloßberges entlang zogen.

Ottilie sah dem Gefährte mit leuchtendem Blicke nach. Flüchtig hob sie den schlanken Zeigefinger an die Lippen und warf einen Kuß in die Lüfte. Als sie aber nun den Kopf wandte und ihr Auge achtlos den niederwärts schlängelnden Fußpfad streifte, entschlüpfte ihr plötzlich ein lebhafter Ausruf. Das Blut schoß ihr bis in die Stirn. Dort unten, wo der Weg sich um die Felswand bog und nur für eine kurze Strecke von hier oben erschaut werden konnte, hatte sie eine Gestalt erblickt – nur eine Secunde lang; denn der Wanderer verschwand eben, als ihr Auge ihn traf, zwischen den Bäumen – dennoch deutlich genug für das Falkenauge, für das wache, bereits in die Ferne lauschende Herz. Wie von Schwingen getragen flog sie abwärts, um nach wenigen Minuten glühend, athemlos, fast taumelnd an der Brust des Vaters zu liegen, der sie fest in die Arme schloß, durch ihr Erscheinen in diesem Moment nicht minder überrascht, als sie durch das seine.

Dicht an der Stelle, wo Beiden dieses Wiedersehen vom Himmel gefallen, stand eine der zahlreichen Bänke, die im Wäldchen zur Rast luden. Wie auf Verabredung wandten Vater und Kind sich derselben zu, sobald sie einander aus den Armen gelassen, und jetzt erst schaute Eines das Andere mit jenem Blicke an, der nur beim Scheiden und beim Wiedersehen so aus dem Herzen in die Augen steigt – jenem Blicke, der beim Abschied uns selbst fragt: „Wirst Du auch jeden Zug festhalten? Schaue! schaue! Du siehst Dein Liebstes lange nicht, vielleicht niemals wieder“ – der beim Wiederfinden den Andern fragt: „Bist Du es auch noch?“

Meinhard Riedegg hatte sich gesetzt und hielt nun die beiden Hände seiner Tochter, die vor ihm stand, in den seinen. Sein Auge schien in der That zu fragen: „Bist Du es noch?“ Selbst in diesem Momente, wo Glück und Freude sie mit lichtem Schimmer übergossen, glich das schlanke hohe Mädchen gar wenig dem Kinde, von dem er vor zwei Jahren geschieden. Weit mehr glich sie den Briefen, welche er, namentlich neuerdings, von ihr erhalten, deren Ausdruck ihn oft ebenso frappirt hatte, wie ihn heute die bereits jungfräuliche Erscheinung überraschte.

„Wie groß Du geworden bist, Tila!“

„Und Du,“ flüsterte sie, erröthend vor Freude über den Schmeichelnamen, welcher ihr nie von anderen Lippen erklungen. „Wie siehst Du jung aus! Gar nicht wie ein Vater. Und jetzt – nicht wahr – jetzt bleibst Du bei uns? Jetzt gehörst Du mir – ganz allein?“

Er wich dem dringenden Blicke des Kindes aus, indem er sich erhob, ihren Arm unter den seinen zog und auswärts zu wandern begann. Erst nach einigen Augenblicken sagte er lächelnd:

Ganz allein? Dem Großpapa wirst Du doch wohl ein Besitztheilchen abtreten müssen.“

„Das meine ich nicht – Du verstehst mich schon. Mir war so bange vor –“

„Wovor bange, Tila?“

„Vor Deiner zweiten Frau!“ Scheu und heftig kam das Wort heraus.

Er stand plötzlich still und sah sie an, blaß und stumm. „Meiner zweiten Frau?“ wiederholte er betroffen.

„Die es ja nicht giebt, die es hoffentlich niemals geben wird. Großpapa spricht ewig davon, Du würdest mir eine Mutter zuführen – wozu bedarf ich einer Mutter, jetzt, nun ich erwachsen bin? O, wie lieb’ ich Dich dafür, daß Du denkst wie ich! Wir Beide wollen zusammenhalten; Alles, was Du verlangst, kann ich thun und Dir sein.“

Meinhard strich ihr das lockige Haar aus der Stirn. „Laß das ruhen, Tila!“ sagte er weich. „Ja, Kind, wir wollen zusammenhalten – zunächst uns wieder kennen lernen; denn über das Maß, was ich von meinem Töchterchen in mir trug, bist Du weit hinausgewachsen. Finde ich noch mehr Veränderungen hier in Riedegg? Wie geht es meinem Vater?“

„Gut!“ sagte Ottilie. „Der Großpapa verändert sich nie – das weißt Du. Was könnte hier auf Riedegg anders geworden sein? Alles geht regelmäßig auf und nieder, wie die Sonne – nein, das paßt nicht; die Sonne verbirgt sich zuweilen, und dann sehnt man sich nach ihr – die Sonne warst Du. Großpapa und Mademoiselle sind immer sichtbar, immer an der gleichen Stelle und bezeichnen die Stunden durch das ewige Gleichmaß ihres Thuns.“

„Du liebst Deine Erzieherin nicht, Ottilie?“

Sie warf einen staunenden Blick aus den Vater.

„Lieben? Was sollte sie damit anfangen? Mademoiselle ist ein Born der Weisheit; daraus schöpft und trinkt man – und ich habe viel Durst. Der Bronnen selbst aber lockt nicht zum Weilen. Nein, Papa, wir lieben uns nicht. Was würde auch Großpapa dazu sagen, wäre es anders?“

Meinhard schüttelte leise den Kopf. Ein nachdenklicher Zug legte sich, fast wie Trauer, um den feinen Mund.

„Armes Kind!“ murmelte er kaum hörbar; „ich blieb zu lange fern.“ Er drückte den Arm, der in dem seinen lag, fester an sich und sagte mit heiterer Ironie: „Mir scheint, Du bist selbst ein Born der Weisheit, Tila. Sprichst Du immer in Gleichnissen?“

Sie wurde roth und lachte. „Nicht immer, Papa! Warum sprechen wir überhaupt von den Anderen, während ich dürste, von Dir zu hören? Wie viel hast Du geschaut, erlebt in fremden Ländern? – Davon wirst Du mir nun erzählen – nicht wahr? Und später nimmst Du mich mit Dir hinaus in die weite Welt.“

„Die doch nicht um ein Haar weiter ist, als unser schönes Heim.“

Sie hatten das Plateau erreicht. Im hellen Morgenglanze schimmerte dem Grafen der fürstliche Sitz seines alten Geschlechtes entgegen, auf dessen östlichem Thurme soeben eine roth-weiße Flagge aufgezogen ward. Sein Kind am Arme trat Meinhard elastischen Schrittes durch das geschmückte Portal in den Schloßhof, auf dem er sich kaum gezeigt hatte, als das dort noch mit festlichen Vorbereitungen beschäftigte Gesinde ihn mit lauten Rufen des Staunens und der Freude umringte. Blitzschnell drang die überraschende Kunde in das Innere des Schlosses. Noch hatte der Ankömmling dessen Eingangsworte nicht erreicht, als zwischen einem Bogen der Gallerie die Hünengestalt des alten Grafen für einen Moment sichtbar wurde. Er hob den Arm zum Gruße und trat dann sogleich zurück. Das Familienoberhaupt erwartete den Sohn im eigenen Gemache.

Als Meinhard die Schwelle des Königinzimmers überschritt und seinem Vater in sichtlicher Bewegung entgegeneilte, sprühten gleichsam Funken aus dem Erz, aus welchem des Greises Züge gegossen schienen. Ein rascher Freudenstrahl brach aus dem kalten Auge, das die ganze Erscheinung des Heimgekehrten wie ein Blitz überflog. Das Adlerauge des scharfen Menschenkenners hatte in dem Gesichte, das er durchspäht, einen neuen Zug erfaßt – dieser Zug sprach von Kraft.

„Willkommen auf Riedegg, Meinhard! Du siehst gut aus! Wir sind überrascht – Dein Reiseplan ließ Dich frühestens zum Abend erwarten.“

„Ich traf schon gestern in Brixen ein, wenn auch spät, und nahm heute frühzeitig Extrapost. Wagen und Gepäck folgen; es lockte mich, unten im Dorfe auszusteigen und in Einsamkeit unsere alten Kastanien wiederzugrüßen.“

Die tiefe Falte , welche seit langen Jahren zwischen den Brauen des alten Grafen hauste, grub sich schärfer. Er wandte sich seitwärts und murmelte: „Immer noch der alte Phantast!“




4.

Es giebt wenig Einflüsse, die mächtiger wirken als eine Autorität, welche aus der Stellung und der Individualität ihres Trägers zugleich herangewachsen ist. Das galt im vollen Umfange für den Grafen Raimund Riedegg. Er hatte lebenslang starke Empfindungen hervorgerufen, war viel gefürchtet, nachhaltig und ernsthaft geliebt worden; denn seine Kraft trat so energisch zu Tage, daß man ihr volle Berechtigung zugestand und ihm jedes Böse, das er unterließ, nicht weniger hoch anrechnete, als das Gute, welches er that. Er besaß einen scharfen Verstand; dennoch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 458. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_458.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)