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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

No. 28.   1881.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.


Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.



Mutter und Sohn.

Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


Von dem weiten Quadrat des inneren Hofes aus gesehen, boten die großartigen Verhältnisse des Schlosses stets einen fürstlichen, heut einen festlichen Eindruck. Die auf massivem, von uraltem Epheu umgittertem Gefüge des Unterbaues ruhenden Gallerien, welche sich in gothischen Bogen kühn und luftig um das erste und zweite Stockwerk zogen, waren mit schweren Laubgewinden umkränzt. Der Springbrunnen inmitten des Hofraumes warf seinen glitzernden Strahl aus einer Fülle blühender Gewächse empor, womit der Marmorrand schon in erster Morgenfrühe umzogen worden. Einige Dienstleute waren am Flügel der Einfahrt beschäftigt, letzte Hand an einen Triumphbogen zu legen, der aus Laubgewinden, Fähnchen und alterthümlichen Waffen zusammengefügt worden.

Das Grafenkind trat mit kurzem Nicken gegen die Beschäftigten hinaus auf den umwaldeten Plan, der sich westwärts weit hindehnte, während der Fels, auf welchem das Schloß vom Thale aus wie auf spitzer Nadel stehend erschien, sich nach Osten zu steil niedersenkte. Durch den Wald wand sich in weiten Krümmungen ein wohlgehaltener Fahrweg, während, dem Schlosse ziemlich nahe, ein gleichfalls geschlängelter, trotzdem mitunter jäher Fußpfad sich zwischen einem wohlgepflegten Hain von Kastanien und Wallnußbäumen niederzog. Ganz nahe unterhalb des Schlosses erhob sich eine starke Esche, deren weitaus gespannte Zweige eine Bank mit rundem Tische davor beschatteten.

Dies war Ottiliens Lieblingsplatz, und dorthin wandte sie sich jetzt. Den Arm leicht aufgestützt, saß sie müßig und folgte mit den Augen dem Spiel des Sonnenlichtes, das mit jedem Windhauche die Schatten des Laubes neugestaltig tanzen ließ. Die schlanke, lichte Gestalt erschien ganz in Uebereinstimmung mit dem hellen Tage; mit tiefem, freiem Athemzuge genoß das Kind Einsamkeit und Schweigen; es blieb aber nicht lange ungestört.

Eine stattliche Dame, überaus genau, fast pedantisch in schwarze Seide gekleidet, näherte sich vom Schlosse her.

„Mademoiselle – Sie wünschen?“ fragte Ottilie und richtete sich auf.

„Wie ich eben erfuhr, werden wir nicht ausfahren, Comtesse,“ antwortete Jene mit großer Artigkeit, die eine leise Färbung geheimen Verdrusses nicht ganz verdecken wollte oder konnte. „Ich erinnere deshalb an die englische Stunde. Es ist zehn Uhr.“

Das Mädchen nahm den vorigen Platz wieder ein.

„Sprechstunden – heute? Sie vergessen den Feiertag.“

„Von einem heutigen Festtage ist mir nichts bekannt, Comtesse.“

Ottilie sah staunend auf.

„Wir erwarten meinen Vater,“ sagte sie langsam und sah ihre Gouvernante mit eigenthümlich bestimmtem Ausdruck an; „das wäre Ihnen nicht bekannt, Mademoiselle?“

„Nachmittags.“

„Und Morgens und in jedem Augenblick! Glauben Sie wirklich, daß ich heute Sinn für Vocabeln hätte?“

„Excellenz wird unzufrieden sein.“

„So fragen Sie an!“ rief Ottilie unmuthig. „Freiwillig setze ich mich nicht in das Schulzimmer.“

Ohne zu antworten, verneigte sich das Fräulein vorschriftsmäßig, wie zuvor, und kehrte nach dem Schlosse zurück. Ottilie sah ihr einen Moment nach; zwischen ihren dichten Brauen stieg eine Linie gegen die helle Stirn auf und nahm derselben alles jugendliche Licht – freilich nur für eine Secunde; dann schlug sie die Arme übereinander und spann sich wie zuvor in ihre Gedanken ein. Es waren zukunftsfrohe, hoffnungsreiche Gedanken – von der Heimkehr des Vaters erwartete das Kind eine neue Phase der eigenen bisher in enge Schranken gebannten Existenz. Sich von diesen Schranken ganz eigentlich frei zu wünschen, kam Ottilie allerdings nicht in den Sinn; denn der in ihrem Hause gültige Begriff des noblesse oblige war ihr zu sehr in’s Blut übergegangen, als daß sie sich gegen irgend eine Einschränkung hätte auflehnen mögen, welche mit solcher Anschauung zusammenhing. Eines aber wußte sie: der kühle Hauch, welcher sie seit so langer Zeit umgeben, daß sie sich bereits an solches Klima gewöhnt hatte, würde von dem Augenblick an sonnendurchwärmt sein, in welchem der lang Entfernte wiederkehrte. Und doch hatte sie den Vater weit weniger lebhaft entbehrt, als sie sich nun auf ihn freute! Erst als seine Heimkehr in naher Aussicht stand, war ihr sein mildes, angenehmes Gesicht aus schlummernder Erinnerung wieder lebendig in’s Gedächtniß gestiegen. Als er schied, war sie ein Kind gewesen, das Alles als selbstverständlich hinnahm, was das Leben gab. Heute war sie noch eine Schülerin, aber kein Kind mehr. Die kühlen Lehren der Weltweisheit, vom Großvater dem jungen Ohre allmählich eingeträufelt, eine in Kenntnissen mancher Art bereits vorgeschrittene Bildung, wie sie der alte Graf an den Frauen geschätzt, mit denen er auf der Höhenstufe seiner eigenen Generation verkehrt hatte, und die er bei den heutigen Damen alter Geschlechter oft mit scharfem Urtheil zu vermissen pflegte, hatten Ottiliens Geist zu einer für ihre Jahre fast zu großen Reife geführt. Doch läßt sich die Jugend zwar Alles

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 457. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_457.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2021)