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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

„Gehört dazu ein besonderes Talent?“ fragte Erich lachend. „Das scheint nur die natürlichste aller menschlichen Eigenschaften.“

„Und mir die schwierigste. Da haben Sie gleich wieder einen von unseren großen ‚Unterschieden‘. Ich sagte Ihnen ja neulich, wir thäten am besten, uns gar nicht näher kennen zu lernen – wir sprechen zu verschiedene Sprachen!“

„Gar nicht näher – oder sehr nahe,“ sagte der junge Mann, indem er sich dicht neben sie setzte und ihre Hand ergriff, mit dem raschen Impuls unmittelbarer Naturen, der auf kälter Angelegte oft so großen Zauber ausübt und ihre gewohnten Waffen unwirksam macht. Deshalb zog auch Leontine die Hand nicht weg, wie sie es, jedem Anderen gegenüber, wohl gethan haben würde; sie besann sich auf keine ihrer raschen Erwiderungen, als er jetzt, unter dem vollen warmen Blick seiner treuen blauen Augen sagte:

„Wollen Sie mir das Freundesrecht gestatten, offen reden zu dürfen? Was drückt und mißstimmt Sie? Darf ich es nicht wissen?“

Sie sah einen Augenblick vor sich nieder.

„Lassen Sie das ruhen!“ sagte sie dann, „es ist kein guter Unterhaltungsgegenstand. Wir sind ja hier, um uns zu amüsiren; erzählen Sie mir weiter, was es heute noch Alles in Venedig zu sehen geben wird!“

„Nein, nein,“ erwiderte Erich, „so entkommen Sie mir nicht. Ich bin so indiscret, einmal wissen zu wollen, von welch sonderbarer Gleichgültigkeit Sie sind, die mich die ganze Zeit her wie ein ungelöstes Räthsel peinigt. Sie haben den wunderbarsten Blick für Alles, was schön ist; man lebt in Ihrer Nähe Stunden, wie nie zuvor in der Welt – bis plötzlich wieder die lebensmüden Anwandlungen über Sie kommen – woher, weiß kein Mensch.“

„Außer mir!“ sagte sie kurz. „Sie stellen sich übrigens die Sache viel zu tragisch vor, lieber Freund; ich habe keine besondere Ursache, mich unglücklich zu suhlen.“

„Nun, also, warum fühlen Sie sich denn nicht glücklich?“

„Vielleicht, weil ich auch dazu keine besondere Ursache habe; vielleicht, weil mir in Wirklichkeit das Talent dazu abgeht. Ich lebe schon so lange in der Welt; das Leben macht so müde – ich habe so Vieles mit angesehen – aber nie Glück,“ fuhr sie hastiger fort, „nie einen Zustand, wie ihn die Poeten schildern und wie er allein der Mühe werth wäre, gelebt zu werden; ich glaube auch jetzt gar nicht mehr daran. Es mag sein, daß ich eigentlich von einer anderen Art bin, als die Anderen um mich her – ich glaube es selbst, aber das hilft mir jetzt Nichts mehr; es ist nur um so schlimmer. Man kann sich nicht mehr ändern – ich bin nach und nach mit voller Absicht so realistisch oder, wenn Sie wollen, so gleichgültig geworden, daß ich mich über Nichts mehr betrübe; allerdings habe ich auch verlernt, mich sehr an Etwas zu freuen, und wenn ich heute Jemanden dafür schwärmen höre, seinen Idealen nachzuleben, so weiß ich nicht, soll ich ihn beneiden oder belachen. Strengen Sie sich mit keiner Bußpredigt an!“ wehrte sie seine beginnende Rede ab, „die Ideale der Kunst gebe ich Ihnen völlig zu; dort suche ich sie auch noch, aber sonst nirgends mehr.“

Wie eine fremde Sprache tönte das in Erich's Ohren; er hörte, ohne im Geringsten zu begreifen, was seiner warmen Jugendlichkeit nur vorkam, wie die seltsamsten Grillen von der Welt. Aber gerade das Fremde, Unverständliche in ihrem Wesen zog ihn an, wie ein Zauberräthsel, und zudem hatte sie nie so entzückend ausgesehen, als indem sie dies Alles wie gleichgültig vor sich hinsprach, während doch ihre sonst so beherrschten Gesichtszüge die Erregung nicht verbergen konnten und einen ganz ungewohnten Ausdruck hatten. Erich sah eine gefesselte Psyche; sein Herz wallte hoch auf.

„Könnte ich Sie nur einmal fünf Minuten lang durch meine Augen in diese schlimme Welt sehen lassen,“ sagte er, „Sie sollten bald wissen, wie schön sie ist. Ich begreife es nicht, wie man das Leben, dieses alle Tage neue, göttliche, freie, nur einmal zu lebende Dasein, nicht stets von Neuem wunderbar findet. Wer will, ist ja auch heute noch der erste Mensch; er braucht sich nur so zu empfinden. Glauben Sie mir, das war es, was die Existenz dieser Alten hier groß und schön gemacht hat. Das Leben wird damals nicht besser gewesen sein, als heute, ich glaube sogar viel schlechter, aber die Leute waren frei. darum waren sie groß. Nichts auf Erden ist unerreichbar für den Arm, der kühn genug ist, danach zu greifen, und das Ideal verkörpert sich überall – in Kunst und Liebe und in den Gestalten großer Menschen, deren Sie doch wahrhaftig auch gekannt haben.“

„Nein,“ sagte sie trocken, „das habe ich eben nicht. Keinen Einzigen, der es vertragen hätte, daß man seine innersten Triebfedern, die Motive seiner Handlungen kannte. Aber die sah ich stets ganz deutlich; denn ich habe unbarmherzig scharfe Augen und sehe auf den Grund der schönsten Redensarten. Ich bin auch selbst durchaus nicht gut, wie Sie vielleicht denken; es sieht nur so aus, weil ich nicht lüge. Aber den Glauben an menschliche Vollkommenheit brauchte ich mir nie abzugewöhnen – ich habe ihn nie gehabt.“

„Sie verleumden sich,“ rief Erich unmuthig.

„Nein, nein,“ sagte sie mit großoffenem Augenaufschlag; „ich gestehe nur ein, was die Anderen sorgfältig verheimlichen, aber ich bin nicht besser, als sie. Das ist's ja eben, daß wir Alle von kleinen Dingen abhängig sind. Sie sollten einmal in unserer Gesellschaft in W… leben; die Misere macht sich in Allem fühlbar. Jeder weiß so genau, was der Andere im Stillen denkt und auch thut – und wenn man das so Jahre lang mit ansieht und sich mitten drunter fühlt – nun, das Uebrige können Sie sich ja wohl selbst sagen.“

„Mehr noch, als Sie denken,“ erwiderte Erich ein wenig verdrießlich. „Wer das Alles so klar erkennt, der hat die Pflicht, aus solcher Umgebung den Sprung in eine andere, gesündere zu thun, die es, Gott sei Dank, noch giebt.“

Sie sah ihm mit einem ganz leisen, ironischen Lächeln unverwandt in die Augen.

„Sie sind anders, lieber Freund, aber es wäre vermessen, auf viele Solche zu rechnen. Auch unsere Künstler sind nicht so, wie Sie – glauben Sie mir!“ setzte sie rasch hinzu „Ich kenne die Herren gut, das Malen allein veredelt die Menschen nicht. Sie sind der Erste von Ihrer Art, den ich sehe, Ihnen glaube ich auch, daß Ihre Gesinnungen rein sind, und daß Sie stets darnach handeln. Wie es Ihnen bekommen wird, das ist eine große Frage. Sie würden sich wohl nicht bedenken, im Nothfalle Alles dafür einzusetzen?“

„Natürlich nicht!“

„Nun, sehen Sie, das thut Niemand von uns „Sprechen Sie immer wieder von ‚uns‘ sagte Erich mit beginnendem Aerger, „als ob Sie mit der ganzen Welt einer Menschenrasse angehörten und ich der anderen.“

„Es mag sein, daß es in Norwegen noch Mehrere von Ihrer Sorte giebt,“ entgegnete sie lächelnd; „wir in unseren gemäßigten Regionen sind immer für’s Vertragen und Vergleichen, um uns die Bedingungen von Comfort und Genuß zu erhalten, die nun einmal als Grundlagen der Existenz gelten. Wir sind Alle zu verwöhnt. Das Ideal ist bei uns eine unbekannte Größe. Und wenn man also doch stets gewisse Rücksichten vor Augen hat und sich wohl hütet, darüber hinaus zu gehen“ – ihr Ton wurde wieder bitter – „dann ist es auch unnöthig, erhabene Redensarten im Munde zu führen. Ich kenne genug Solche, die es thun, aber es ist nicht meine Sache. – Brechen wir ab davon!“ sie erhob sich und schob den Sessel, der sich in ihre Schleppe verwickelt hatte, bei Seite, „wir kommen wirklich zu tief in den Text, und ich bringe mich ganz unnöthiger Weise um das Bischen Sympathie, das Sie allenfalls noch für mich haben.“

„Einen Augenblick noch und noch eine Frage!“ sagte Erich, dem während ihrer letzten Worte eine Ahnung aufgegangen war. „Würden Sie im Stande sein, Jemanden ohne Neigung, um seiner Stellung willen zu heirathen?“

Leontine zögerte einen Augenblick, dann warf sie mit einem trotzigen Blicke den Kopf in die Höhe.

„Ja! Unter Umständen. Würden Sie mich verachten, wenn ich's thäte?“

„Ja!“ rief er stark und machte ein paar rasche Schritte durch's Zimmer. „Unter allen Umständen!“

Die Worte waren sich gefolgt wie Blitz und Donnerschlag. Dann wurde es ganz still. Plötzlich blieb Erich stehen und sagte mit ganz verwandeltem Tone:

“Wenn Sie es könnten! Aber Sie können es nicht; so lügt die Natur nicht, wie es diese stolzen Züge müßten – Ich biete Ihnen die Wette,“ rief er erregt, als sie sprechen wollte; „ich weiß jetzt Alles, als ob Sie mir es erzählt hätten, ich habe ja wohl auch schon gesehen, wie elend man sein bestes Leben um Geld wegwirft. Aber Sie sollen es nicht, Sie nicht – ich

könnte es nicht ertragen – und Sie werden es nicht thun; Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_422.jpg&oldid=- (Version vom 14.2.2021)