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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

hier herrscht die Ruhe des Todes; wie Wachsfiguren stehen die Unglücklichen an den Wänden umher; wie man sie nach dem Ankleiden Morgens hingestellt, so bleiben sie stehen, bis man ihnen zu Mittag die Speisen einflößt. Hier herrscht kein Irrsinn mehr – hier herrscht die Geistesverödung; es sind Lebendig-Todte, die nur noch athmen. Bei einzelnen sind die Glieder wachsartig beweglich; hebt man einen Arm, so bleibt er frei stehen; die Augen sind erloschen; die ganze Haltung der Figur zeigt, daß sie nur steht, weil sie der Wärter lothrecht hinstellte. Man ist betroffen, daß es Mitmenschen geben kann, die nur noch wie Pflanzen vegetiren. Und doch leuchtet gerade hier der Stern der Menschlichkeit wieder um so heller auf. Die Wärter, die hier thätig sind, stehen über dem Samariter; es gehört noch mehr als Menschenliebe, es gehört Entsagung und Heldenmuth dazu, unter lebenden Marionetten, unter Larven sein Leben zu verbringen und diese zu warten und zu pflegen, zu füttern und zu reinigen wie Säuglinge. Wenn ich recht vernommen, sind die betreffenden Wärter genesene Seelenkranke – sie haben selbst gelitten, und so mag die ganze Barmherzigkeit für ihre Leidensgenossen durch die Hand des Schicksals geweckt worden sein.

Im Frauengarten, der ähnlich angelegt ist wie der Männergarten, wiederholen sich dieselben Bilder, nur in’s Weibliche übersetzt. Im Ganzen trifft man hier auf weniger Selbstgefühl, man sieht mehr duldende, leidende, schwermüthige Gesichter. Der Größenwahn, der drüben im Männergarten mit theatralischen Gesten einherschreitet, scheint hier seltener; dagegen waren die, welche an Sinnestäuschungen leiden, zahlreicher; ferner sah ich hier mehrfach das hüpfende Zurückweichen vor einem unsichtbaren Gegenstand, wie es der große Charakterdarsteller Döring als König Lear mit vieler Naturtreue wiedergab.

Merkwürdig war mir, daß sehr viele von den Angeredeten im Anfang die klarsten Antworten gaben; in der Regel sprachen sie augenscheinlich gern und eine zeitlang auch correct, aber allmählich verdunkelte sich das Vorstellungsvermögen; der Redefluß trübte sich mehr und mehr, und zuletzt verlief er in den Sand der verworrensten Anschauungen. Rührend war auch hier die Ehrfurcht und das Vertrauen der Kranken zu ihrem Heilbringer und obersten Wächter, dem Director der Anstalt, so weit sie ihn erkannten. Klagen, mit denen die Irren sehr freigebig sind, habe ich nirgend vernommen; nur ein Weib in der sogenannten Tobstation warf sich mit gutem Anstand dem freundlichen Manne vor die Füße und bat in herzzermalmenden Tönen um Entfernung ihrer Bettstatt aus der Isolirzelle. Natürlich schwebte mir ein Gefängnißraum mit allerhand eisernen Sicherheitsmaßregeln vor; ich wurde neugierig diese Zelle kennen zu lernen, und als ich sie nun sah, war mein erster Gedanke: Wenn doch jeder Arme sich eines so freundlichen, luftigen und gesunden Schlafraumes erfreuen könnte.

Der ganze Unterschied zwischen einer Isolirzelle und einem gewöhnlichen Schlafzimmer besteht darin, daß die Thürschlösser fehlen, die Wände mit glatten Holztafeln überkleidet und statt eines Ofens Heißwasserrohre in zweidrittel Zimmerhöhe angebracht sind. Das Fenster ist nicht kleiner, als jedes andere; nur hat man es durch Jalousien geschützt; dazwischen herein grüßen Weinranken, sodaß trotz des abgedämpften Lichtes ein Vergleich mit einem Gefängnißraum nicht aufkommen kann.

Wie sich die höheren Stände im Leben weniger natürlich geben, so geben sie sich auch im Irrsinn. Lange, lange Reihen von Wohnungen der ersten und zweiten Classe bin ich durchwandert, ohne auf eine Seelenkranke zu stoßen, die auch der Laie sofort als solche erkennen konnte; nur einige hielten sich die Ohren fest zu. Die Damen stickten, lasen, schrieben oder musicirten; sie erhoben sich zur üblichen Vorstellung, worauf nichtssagende Worte gewechselt wurden, denen das übliche verbindliche Lächeln mit der üblichen Abschiedsverneigung logisch nachfolgte – ganz wie in der Welt draußen auch.

Einen freundlichen, schier anmuthigen Anblick gewährte das große Waschhaus. Jugendliche Wäscherinnen in großer Zahl, Irre aus dem Arbeiterstand, mit schneeweißen Jäckchen angethan, rührten mit Krücken in den dampfenden Kupferkesseln oder standen an den Waschfässern und bewegten den Mund nicht langsamer, als die Hände. Die traditionelle Gesprächigkeit am Waschfaß muß sehr tiefe Wurzel geschlagen haben, da selbst der Irrsinn nichts daran ändern kann. Mit einer wahrhaft einschmeichelnden Beredsamkeit und einer glockenhellen Stimme erzählte hier ein blutjunges, bildhübsches Bauernkind von einer „albernen Stimme“, die ihr immer dazwischen spräche, wenn sie etwas reden wolle, und rührend fragte sie, ob der Herr Geheimrath die „alberne Stimme“ nicht bald verscheuchen könne. Es schien ihr schwer auf dem Hetzen zu liegen, daß sie sich in ihrer Unterhaltungsgabe beeinträchtigt sah. Tragischer war der Irrsinn eines anderen jungen Weibes; sie klagte sich des Kindesmordes an und zwar indirect – sie versicherte in Einem fort, sie habe ihr Kind nicht erkälten wollen, wenn sie es auch in die Kälte hinausgetragen. Der Irrenarzt giebt nichts auf derlei Reden, so bedenklich sie auch erscheinen. –

An dem Tobhaus der Männerabtheilung wollen wir geschlossenen Auges vorübergehen; nur über die Zwangsjacke möchte ich einige Worte sagen, weil ihr schrecklicher Name zu ganz irrigen Vorstellungen geführt hat. Diese Jacke, eine ebenso einfache, wie geniale englische Erfindung, ist aus starken Stoffen gefertigt; sie wird auf dem Rücken geschlossen; ihre Aermel haben etwa die doppelte Länge eines Menschenarmes und laufen in schmale Lederbänder aus, die ebenfalls auf dem Rücken verbunden werden, sodaß der Kranke beide Arme wie ein Verwundeter in der Binde trägt; damit sind seine Wärter vor ihm und er ist vor sich selbst geschützt; sein Anblick ist keineswegs so traurig, wie der eines Gefesselten.

Der Mittag unterbrach unsere Wanderung. Um das seltsame Leben in der Anstalt ganz kennen zu lernen, sollte ich unter Irrsinnigen speisen. Meine geheime, ich möchte sagen unheimliche Neugier sollte enttäuscht werden. Die Frau Director machte die Honneurs; der Herr Director präsidirte, und rings um die Tafel saßen fünf Herren aus den besten Gesellschaftskreisen. Der ganze Proceß vollzog sich nicht anders, als man es an guten Hoteltafeln gewöhnt ist, und das Gespräch war gesund und logisch.

„Herr Geheimrath, ich möchte fast glauben, Sie haben mich hier mystificirt!“ rief ich nach Aufhebung der Tafel verwundert aus, „so scharf und so gerecht urtheilen sonst nur vernünftige Leute, und die sind selbst unter den gesunden nicht sehr dicht gesäet.“

Ich gebe zu, es ist die Elite meiner Anstalt, und doch war ein ernsthaft Kranker darunter,“ war des Directors Antwort. Dieser Herr gehört zu denen, die sich jeden Tag einmal „geistig räuspern“ müssen; er schreit in aller Frühe sein Seelenleid in eine gewisse Röhre hinab, und dann ist er für den Tag erlöst von seiner Krankheit und völlig zurechnungsfähig. War der Anfall des Morgens besonders stark, so trägt der Director kein Bedenken, ihn selbst nach Dresden zum Besuch des Hoftheaters oder eines Symphonieconcertes zu beurlauben. O Menschenseele, was für ein dunkles, unauflichtbares Ding bist du!

In den vierzig Jahren, während welcher Director Dr. Lessing als Herr der Samariterburg da oben residirt, fanden 7813 Seelenkranke Aufnahme; davon mußten 1832 als unheilbar erklärt werden, 1502 verstarben in der Anstalt, 1404 wurden relativ und 2592 völlig geheilt entlassen. Wenn man bedenkt, daß den öffentlichen Anstalten immer nur die schweren Fälle zugewiesen werden, so sind diese Heilresultate relativ immerhin erfreuliche.

Für den Wärter gilt als erstes Gebot: verschaffe dir Zuneigung und Vertrauen. Die Furcht wäre bald wachgerufen im Irren, aber sie gewährt nicht die geringste Garantie. O, es mag für diese wackeren Leute oft unendlich schwer sein, in dem listigen, verschlagenen, anmaßenden, zu Insulten geneigten oder gar auf Mord sinnenden Irren immer nur den Kranken zu sehen, dem die Erkenntniß fehlt. Die herzlichsten Liebesdienste werden wild zurückgestoßen, und der Wohlthäter kommt in den Geruch eines Kerkermeisters; er soll die Quelle aller Leiden sein. Er sitzt gleichfalls hinter Schloß und Riegel; er lebt und schläft unter einer Zahl völlig unberechenbarer Menschen; er steht ruhig inmitten einer irrsinnigen Holzmachercolonie, die mit den gefährlichsten Werkzeugen hantirt – er soll die aufregendsten Handgriffe, wie das Schützen der Tobsüchtigen ohne Wortwechsel, rasch und lautlos vollziehen; man fordert von ihm Scharfblick, Beobachtungsgabe, heitere Gemüthsart, Beharrlichkeit und unendliche Langmuth, ja, man fordert einen Mustermenschen – und das Schöne ist, man findet auf dem Sonnenstein unter den Wärtern wirklich solche Mustermenschen.

Den Dank der Menschheit diesen Männern und Frauen!

Möge sich der Menschenfreund, gegenüber dein eben geschilderten Elend, mit dem Trost begnügen, daß die traurigsten Stätten, die trübseligsten Asyle doch hell und versöhnend von der jungen Sonne moderner Humanität durchleuchtet und durchwärmt werden!

Th. Gampe.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_335.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)