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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Die nächste Umgebung von Smyrna ist in neuester Zeit öfters durch Räuberbanden sehr unsicher gemacht worden. Selbst den unmittelbar im Rücken der Stadt emporragenden Schloßberg, der von gewaltigen Ruinen gekrönt ist und von dessen Höhe man eine herrliche weite Rundsicht genießt, durfte man nicht ohne Waffen besteigen.

Aber nicht allein außerhalb der Stadt lauern die Briganten, sondern auch innerhalb ihrer Mauern, wenn auch in dem unverdächtigen Costüm anständiger Leute. Es giebt nämlich im Handelsstande von Smyrna vielleicht mehr als an irgend einem anderen Platze der Welt eine gewisse Sorte von Geschäftsleuten aus allen Nationen, deren Haupthätigkeit im Betrug und in der Plünderung der ihnen vertrauenden großen und kleinen Capitalisten besteht. Ich selbst habe über diese Herren leider persönlich die unerwünschtesten Erfahrungen zu machen Gelegenheit gehabt. Betrügerische Bankerotte sind das Hauptmittel, mit dem sich diese gewandten Speculanten zu bereichern pflegen. Natürlich giebt es auf der anderen Seite auch eine Anzahl von guten und streng ehrenhaften Kaufmannsfirmen, es muß aber eben Jeder, der mit Smyrna in Geschäftsverbindung treten will, erst sehr genaue Personal-Vorstudien machen, ehe er Gelder oder Waaren nach diesem Platze zu senden riskiren darf.

Smyrna hat mit den meisten Seestädten des mittelländischen Meeres die Eigenschaft gemein, daß ein jedes der besseren Häuser (meistens bunt angemalte Holzbauten) sein pittoreskes Aussichtsthürmchen und sein plattes Dach zum Spazierengehen hat. Eine Abendpromenade auf einem solchen Dachplateau giebt nicht nur eine herrliche Aussicht auf Meer und Schiffe, Gärten und Gebirge im Lichte der untergehenden Sonne, sondern auch auf zahlreiche schlanke Mädchentaillen, anmuthige Frauenköpfe und eine fröhlich sich tummelnde Kinderwelt; denn alle diejenigen Familien, denen platte Dächer zur Disposition stehen, lieben da oben in den kühlen Abendstunden die erfrischende Seeluft einzuathmen.

Nach siebenstündigem Aufenthalte und nachdem ich noch durch die Güte meines in Smyrna lebenden Freundes Stöckel die Bekanntschaft des bekannten deutschen Consuls Julius Frobel, des einstigen Genossen Nobert Blum's und Mitgliedes des deutschen Parlaments von 1848, gemacht, lichteten wir von Neuem die Anker und dampften wieder hinaus in die lange und weite, einem stundenbreiten Strome gleichende Bai. Unser Schiff hatte in Smyrna viele neue Passagiere an Bord genommen und das Verdeck war in Folge dessen gedrängt voll von fremdartigen Gestalten. Das Fenster meiner Privatkajüte ging nicht unmittelbar auf die See hinaus, sondern auf einen Corridor innerhalb der Schiffswand, der mit Gruppen von türkischen Frauen und Kindern angefüllt war und zu dem die männlichen Passagiere des Deckes weder Zutritt noch Einblick hatten, Türkische Kinder sind mit ihren frischen blühenden Gesichtchen und ihrem geschmackvollen bunten Costüm immer eine angenehme Erscheinung. Gilt in den Vereinigten Staaten mit Recht das Wort: „Amerika hat keine Kinder“, da eben die letzteren dort fast durchgängig einen in so außerordentlichem Grade frühreifen, selbständigen und unabhängigen Geist offenbaren, so scheint mir der Orient das Land der Kinder par excellence zu sein. Diese schmucken kleinen Türken und Türkinnen erschienen mir immer so still, so sanft und bescheiden, so respectsvoll und gehorsam gegen ältere Personen, daß sie mir fast wie kleine Engel vorkamen.

Das Türkenkind ist gewohnt, in jedem alten Manne mit weißem Barte ein ihm vorgesetztes höheres und verständigeres Wesen zu sehen, dessen Weisungen ohne Widerrede zu gehorchen ihm eine unweigerliche und ausdrücklich vom Koran gebotene Pflicht ist. Woher diese Verschiedenheit der Kindernatur in Amerika und im Orient? Ihr Grund liegt in der Erziehung; denn in der Türkei wird das Kind in strengem Gehorsam und straffer Disciplin auferzogen; in Amerika wird ihm in Allem vollständig der freie Wille gelassen, damit es ein würdiger, selbstbewußter und willensstarker Bürger der Republik werde. Beide Methode habe ihre guten Seiten, aber auch ihre Gefahren. Für edel angelegte, hoch und reich begabte Naturen mag im Allgemeinen die amerikanische Erziehungsmethode die bessere sein, für niedere und leitungsbedürftige aber (und bilden diese nicht leider die Mehrzahl der Menschen?) ist es entschieden die türkische.

Vor meinem Fenster hatte sich auf weichen bunten Kissen und Teppichen eine Gruppe von jungen Türkinnen von zwölf bis zwanzig Jahren gelagert (hier zu Lande sind schon die zwölf- bis vierzehnjährigen Mädchen vollkommen erwachsen und heirathsfähig), deren freies ungenirtes Wesen mich nicht wenig belustigte; sie hatten es wohl bemerkt, daß ich sie öfter durch das Fenster beobachtete; ich habe jedoch wiederholt die Erfahrung gemacht, daß Türkinnen sich vor Europäern nur dann ängstlich zu verschleiern und zu verbergen pflegen, wenn sie wissen, daß ein türkischer Mann sich in der Nähe befindet, fühlen sie sich aber vor der Ueberwachung eines solchen sicher, so scheint es ihnen Spaß zu machen, sich vor dem europäischen Fremdling so wenig zu geniren, als wenn auch er nichts weiter als ihresgleichen wäre. Da ich nun häufig einige leckere Süßigkeiten von der Table d'hôte meinen türkischen Reisegefährtinnen durch das kleine Fenster zuschob, so steckte sich zwischen uns rasch eine Art Freundschaft her. Die Türkinnen sind oft sehr anmuthige Erscheinungen, freilich nur bedingungsweise; sie tragen ihr Haar rings herum in unter den Ohren hinlaufender gleicher Linie verschnitten, gerade so, wie es die Ritterpagen des Mittelalters bei uns zu tragen pflegten. Diese Haartracht steht den intelligenten weißen und oft höchst edel geschnittenen Gesichtern sehr hübsch. Das Costüm freilich, der lange unförmliche, rosenfarbene, purpurrote, braune, grüne oder orangene Zeugmantel mit seinem vollständigen Mangel an Taille – die katzenartige, platte Rundung des Kopfes, welche durch die dickanliegende Verschleierung desselben hervorgebracht wird, und die gräßlichen weiten und losen und jedes Absatzes entbehrenden gelben Ritterstiefel, an denen gleichfarbige Pantoffeln plump und schwerfällig hin- und herschleppen, bilden in ihrem Ensemble wohl die geschmackloseste, unschönste und widerwärtigste Tracht, die jemals für Evastöchter erfanden werden konnte. Viele der vornehmeren Türkinnen sind übrigens in den letzten Jahren zu der Einsicht gekommen, daß ihre traditionelle Fußbekleidung die ungefälligste von der Welt ist und daß ihre niedlichen Füßchen sich unendlich hübscher in eleganten Wiener oder Petersburger Stiefeletten ausnehmen. Es ist daher schon gar nicht mehr selten die Perle des Harems in den feinsten europäischen Absatzstiefelchen einherwandern zu sehen. Der geheimnißvolle Gesichtsschleier, der Stirn Nase und Kinn Quer umspannt, hat sich auch in den letzten Jahrzehnten allmählich immer mehr und mehr verdünnt und ist jedenfalls unvergleichlich gefälliger, als die schwere dunkelfarbige Gesichtsmaske, deren unsägliche Häßlichkeit mich immer so sehr bei den arabischen Fronen von Zanzibar empört hat.

Wenn diese kleinen Modenveränderungen und Neuerungen allmählich so fortschreiten, dürfte vielleicht binnen ein paar Jahrzehnten auch der bunte lange Mantel und die weiten bauschigen Beinkleider einer europäischen Taillenrobe und zierlich beränderten schneefarbigen Pariser Jupons weichen. In schlanken Taillen werden freilich die Türkinnen (ausgenommen solche, die noch in der frühesten Jugend stehen) wohl nie besonders glänzen, da die Disposition zur Körperfülle mit zunehmenden Jahren fast allgemein bei ihnen, wie ja überhaupt bei den Frauen des südlichen Europa, sich geltend macht. Zum Glück für sie verlangt aber gerade der Schönheitssinn der türkischen Männer eine solche Corpulenz, und eine elfenhaft-zierliche, englisch-amerikanische Taille würde daher vermuthlich den Frauen vollständig die Herzen ihrer Gatten entfremden.

Nachdem wir die langgestreckte Bai von Smyrna hinter uns hatten, passirten wir die schönen Inseln Mitylene, Tenedos und Lemnos und fuhren dann in die herrliche Wasserstraße der Dardanellen ein, deren raschfluthender Meerstrom fortwährend mit zahlreichen Segel- und Dampfschiffe überdeckt ist. Sowohl am Eingange der Straße wie auch beim Austritte derselbe in Gallipoli hielt unser Schiff eine halbe Staude an und dampfte nun in das spiegelglatte Marmara-Meer hinein, dessen entfernte Ufer wir nie ganz aus den Augen verloren.

Am 23. August früh sah ich endlich die mir so wohl bekannten eleganten Contouren der zahlreichen runden Moscheekuppeln und schlanken Minarets von Constantinopel sich am nordöstlichen Horizonte abzeichnen, und um 7 Uhr warfen wir in der Mitte des herrlichsten vom lichten Glanze der Morgensonne überflutheten Rundpanoramas im „Goldenen Horne“ Anker. Endlich, nach 41/2 Jahren, betrat ich nun wieder den heimatliche Boden Europas, und ich fühlte mein Herz freudig schlagen.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_328.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)