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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Behauptungen Ihres Vaters stehend, vorher von ihrer zweifellosen Gültigkeit und Echtheit selbst überzeugen; genug, ich sollte sie ihm übergeben und konnte es nicht. Ich konnte nur sagen: sie sind uns geraubt, und damit sprach ich eine Beschuldigung gegen Ihren Vater aus, so schwer, daß dem Herzog nichts übrig blieb, als über Ihren Vater eine Criminaluntersuchung zu befehlen oder meine Entlassung anzunehmen.“

Regina sah mit starren Blicken Aurel an; sie war tief erbleicht und offenbar ganz fassungslos.

„Mein Vater ein Intrigant, ein Dieb – nein, nein, Aurel, es ist nicht möglich, meine ganze Seele bäumt sich dawider auf – es ist nicht möglich,“ rief sie jetzt aufspringend mit dem Tone einer Herzensangst, die etwas furchtbar Erschütterndes hatte.

„Es ist furchtbar, Regina, aber es ist nicht anders. In der weiten Welt ist nur ein Mensch, für den, außer uns, diese Documente einen Werth haben. Und dieser ist Ihr Vater.“

„Und mein Vater,“ murmelte Regina mit ihren bleichen Lippen „mein Vater hat Creaturen, wie diesen Becker …“

Sie rang die Hände, machte ein paar Schritte vorwärts, dann aufathmend mit etwas, was wie ein Weheschrei aus furchtbarster Herzenspein war, stieß sie hervor.

„Aurel, das ertrage ich nicht; das geht über meine Kraft. Ein Bruder, der zu feige ist, sein eigenes, ihm vertrauendes junges Weib zu schützen und zu vertheidigen. Ein Vater, der Documente stehlen läßt – und der dadurch zugleich Sie, Sie, Aurel, um seine ganze Lebensstellung bringt, Sie stürzt, das Land seines – ja, seines Retters beraubt; denn das waren Sie, Aurel, sein guter Genius – ich verstehe nicht, wie ich leben soll unter ihnen – es peitscht mich von hinnen, fort von diesen Menschen, in die Weite, in die Welt, wenn es sein muß, in den Tod hinein.“

Regina war in einer Aufregung, wie Aurel sie nie gesehen; mit flammenden Augen, mit vor Leidenschaft glühenden Zügen ergriff sie seinen Arm, und ihn beinahe krampfhaft mit den zarten Händen umspannend, fuhr sie fort:

„Aurel, wir sind beide freie, willensstarke, unabhängige Menschen – wir sind zu gut, unterzugehen in dieser Umgebung, zu sterben an denen, die unser Glück sein, an denen wir das Leben haben sollten. Lassen Sie uns Rettung und Heil suchen in der Flucht! Ich bin die Ihre, Aurel, nehmen Sie mich für immer und ewig, und fliehen wir, weit, weit von hier, in die fernste Ferne, in irgend ein Sonnenland, nach Italien, nach Indien, wenn es sein muß – auf eine stille Meeresinsel, wenn Sie es wollen!“

„Welcher Gedanke, Regina!“ rief Aurel bestürzt aus.

„Es ist das Beste, das Einzige; ich bin reich, Aurel, durch meine Mutter; auch Sie haben genug, um frei sein zu können.“

„O mein Gott, welche Aussicht schließen Sie da vor den Augen meiner Seele auf, die davon trunken vor Glück werden könnte!“ sagte Aurel, ganz überwältigt sich in einen Sessel werfend und verzweiflungsvoll die Hände vor seine Stirn pressend. „Mit Ihnen zu fliehen, Regina, an ein schönes sonniges Meeresufer, da ein Heim zu gründen, das, von immergrünen Wipfeln beschattet, zwei Menschen umschirmt, welche nur ihrer Liebe und in einer Gedankenwelt leben, die hoch ist wie die Palmen, unter denen sie wandeln, rein wie der Strand zu ihren Füßen, den die ewig plätschernde Meereswelle bespült – mein Gott, welch ein Bild, welch eine Aussicht, welch eine Lockung –“

„Können wir Gerechtfertigteres, Weiseres thun, Aurel?“

„Nein – wenn wir es dürften!“

„Ah, Sie – wollen nicht, Aurel?“

„Ich darf nicht.“

„Dürfen!? Sie sind jetzt frei wie der Vogel in der Luft.“

„Ich bin frei; ich könnte ziehen, wohin es mich treibt – aber ich könnte eines nicht mit mir nehmen, ohne das ich nicht zu leben weiß, auch an Ihrer Seite, Regina, nicht zu leben weiß.“

„Und das ist?“

„Meine Selbstachtung. Ich könnte mich nicht achten, wenn ich nur an mein Glück dächte, und nicht an die Pflicht, die mich hier fesselt. Ich muß meiner Schwester geleugnetes Recht, ihre bedrohte Ehre vertheidigen, retten. Sie hat nur mich hier, der es vermag; ich darf nicht von hier gehen, bis –“

„Also Sie wollen mich dieser Schwester opfern?“

„Opfern – das ist nicht das rechte Wort, Regina; ich muß einstehen für meine Pflicht, damit neben meiner auch Ihre Achtung mir bleibt.“

Regina athmete mehrmals stürmisch auf; es war, als ob sie dem Sturm der in ihr erweckten Leidenschaft durch irgend einen heftigen Schrei, einen gewaltsamen Ausbruch Luft machen müsse, und diesen mit allem Aufgebot ihrer Selbstbeherrschung zurückdränge, und dann ließ sie sich in eine Ecke des Sophas fallen, verbarg ihr Gesicht in den Polstern und begann krampfhaft zu schluchzen. Tieferschüttert legte Aurel seine Hand an ihre Stirn, wie um ihr Gesicht zu erheben und es sich zuzuwenden.

„Regina, seien Sie stark, seien Sie ganz Sie selbst – sagen Sie mir, daß ich Recht habe –“

Sie wehrte heftig seine Hand ab.

„O, Sie lieben mich nicht, Sie lieben mich nicht, Aurel,“ schluchzte sie, erstickt fast von ihren strömenden Thränen, „um Gottes Barmherzigkeit willen, gehen Sie jetzt, lassen Sie mich!“

Aurel stand wie vernichtet. Was beginnen dieser Leidenschaft gegenüber? Reden? Es war vergeblich. Harren, bis Regina ihre Fassung wiedererlangt? Er durfte es nicht. In jedem Augenblick konnte Graf Gollheim nach Hause zurückkehren. Er durfte diesem Manne in dieser Stunde nicht begegnen; es blieb ihm nichts übrig als zu gehen. Regina machte noch einmal eine wie abwehrende Bewegung mit der Hand, und er ging.




11.

Der alte Thierarzt Lanken hatte, nachdem er seinen Sohn verlassen, sich heimbegeben und zunächst sich damit beschäftigt, den Willen des letzteren zu erfüllen und Namen von Behörden, Menschen, Orten jenseits des Oceans aufzuschreiben, deren Aurel bedürfen konnte, um sich neue Anfertigungen der die Trauung seiner Schwester mit Ludwig Gollheim bezeugenden Actenstücke zu verschaffen. Und dann hatte er geharrt auf Aurel’s Erscheinen. Das Harren machte seine unwirsche Stimmung nicht milder; es gingen ihm allerlei Phantasiebilder vor den Augen vorüber, aus denen er eine besänftigende und tröstende Wirkung auf sein verwundetes Gemüth schöpfte. Besonders malte er sich die unglückliche magere Leiblichkeit Schallmeyer’s aus, wie er diese mit genialer Verachtung aller sanctionirten Gesetze und Regeln der edlen Boxerkunst so gewaltsam durcharbeitete, daß kein Cuvier mehr feststellen konnte, ob dies so gründlich in seinem Organismus erschütterte Wesen ein wirkliches Känguruh sei oder nicht.

Während Lanken sich diesen angenehmen Vorstellungen hingab – Lily war im Nebenzimmer und beschäftigte sich mit einer zierlichen Holzmalerei, worin sie mit Hülfe guter Schablonen recht Achtungwerthes leistete – verflossen die Stunden schnell. Aber sie brachten nicht den erwarteten Aurel, endlich nur seinen Diener, der ein Billet übergab und sich, ohne Antwort zu verlangen, wieder entfernte. Lanken erbrach das Billet und las die folgenden Worte von der Hand seines Sohnes:

„Erwarte mich heute nicht! Das Ergebniß meiner Verhandlung mit dem Herzoge ist meine Entlassung gewesen – Du siehst, meine Ministerschaft steht nicht mehr zwischen Deinen väterlichen Gefühlen und Deinem Sohne. Das wird Dir zu großer Befriedigung gereichen; mir giebt es so viel zu denken und zu thun, daß ich die übrigen Stunden dieses Tages für mich bedarf. Also bis morgen!“

Der alte Herr starrte diese Zeilen sehr betroffen an. Aurel nicht mehr Minister? Nicht möglich! Er stürzte zu seiner Tochter hinüber, die eben ihre Holzmalerei gelangweilt fortgeworfen hatte und nun vor dem Spiegel stand; sie war beschäftigt, ihre kirschrothen Lippen mit einem Tuche von den kleinen Farbenstrichen zu reinigen, welche ihr Pinsel, den sie mit diesen hübschen Lippen gespitzt hatte, darauf zurückgelassen.

„Da haben wir die Bescherung, Lily! Lies einmal! Das hat diese infernalische Bande zu Wege gebracht. Gott verdamme das Hundegezücht!“

Lily hatte das Billet ruhig mit den Augen überflogen und reichte es ihrem Vater zurück.

„Aurel ist nicht mehr Minister? O!“ sagte sie sehr gefaßt, „was ist er denn jetzt? Und ist es eine Sache, daß Du so darum fluchen mußt, Governor?“

„Na, fragt die Grasmücke noch? Begreifst Du nicht, wie nachtheilig es für uns ist, wenn Dein Bruder nicht mehr die Macht hat, als Erster im Staate für uns einzustehen?“

Lily hatte sich lässig auf ihren Stuhl am Fenster niedergelassen

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