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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

seit dem Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft“ im Jahre 1781 datirt, das zugleich das Todesjahr Lessing’s ist. Und doch hat ein Künstler wie Rauch sicher nicht ohne Grund gerade diese beiden Männer neben einander gestellt.

Wohl wollte er durch diese Zusammenstellung des niedergegangenen und des aufsteigenden Gestirns dem Gedanken Ausdruck verleihen, daß bei aller Verschiedenheit der seelischen Individualität und des Lebensganges dieser beiden Männer in der Energie ihrer intellectuellen Persönlichkeit, in der unerbittlichen Schärfe ihres kritisch angelegten Geistes, wie in der sittlicher Hoheit ihrer Wahrheitsliebe doch eine tiefinnerliche Verwandtschaft bestanden hat. Kann man aber nicht auch in Bezug auf die historische Bedeuztung derselben die Parallele noch weiter führen? Hat nicht jeder von ihnen in seinem Gebiete nicht nur eine morsche Welt in Trümmer zerschlagen, sondern auch triebkräftige Keime zu neuen geistigen Bildungen für die folgenden Generationen gepflanzt?

Wie Lessing als jugendlich trotzige Heldengestalt in den Aufklärungs- und Humanitätskämpfen des achtzehnten Jahrhunderts dasteht, so bezeichnet Kant’s philosophische Wirksamkeit das reiche und abschließende Resultat dieser großen Culturbewegung, aber auch zugleich den Central- und Ausgangspunkt aller bis auf die Gegenwart fortwirkenden geistigen Richtungen des neunzehnten Jahrhunderts. Der Aufschwung der mathematisch-mechanischen Naturbetrachtung, die empirischen Untersuchungen auf dem Gebiete der Psychologie, Moralphilosophie und Aesthetik, die an die englischen Freidenker anknüpfenden Kämpfe des Vernunftglaubens gegen die theologische Orthodoxie, sowie der von Rousseau angefachte leidenschaftliche Drang, das Individuum von den Fesseln einer falschen Cultur zu befreien: alle diese und noch andere mächtige Strömungen der Zeit fanden ihre Abklärung und ihren versöhnenden Abschluß in einer Weltanschauung, die das Zauberwort, nach welchem das ganze Jahrhundert vergeblich gerungen, aussprach: die absolute Autonomie des menschlichen Geistes gegenüber der Welt der Erscheinungen, d. h. die gesetzgebende Kraft der Vernunft in Wissenschaft und Leben. Und wie dieser Grundgedanke der Kant’schen Philosophie alle von ihm behandelten Fragen in dem weiten Gebiete menschlichen Wissens mit mächtiger Kraft durchdringt, so bildet er auch den gemeinsamen fruchtbaren Mutterboden, von dem aus in der Folgezeit immer neue Ideenkreise und Weltanschaungen emporsprießen mußten; so wird er der Ausgangspunkt für alle bedeutenderen philosophischen Systeme und somit der lebendig befruchtende Quell für die gesammte höhere Gedankenwelt unseres Jahrhunderts.

Kant hat ein ruhiges, stilles und friedliches Denkerleben vollbracht. Als wollte ein gütiges Geschick die Tiefe dieses Geistes vor allen äußeren Stürmen schützen blieb er nach beiden Seiten hin bewahrt: sowohl vor großem Glück wie vor großem Unglück. Im schlichten Handwerkerhause wurde er am 22. April 1724 zu Königsberg in Ostpreußen geboren. Sein Vater (dessen Familie aus Schottland stammte und sich ursprünglich Cant schrieb) betrieb das Sattlerhandwerk. Unser junger Immanuel, der unter den sechs Geschwistern schon früh die besten Anlagen zeigte, erhielt seine Vorbildung auf dem „Collegium Fridericianum“ seiner Vaterstadt, welches er so schnell absolvirte, daß er schon 1740, also im sechszehnten Lebensjahre, die Universität beziehen konnte, um Theologie zu studiren, mit der er jedoch schon frühzeitig das Studium der Mathematik, der Naturwissenschaften und der Philosophie verband. Nach Beendigung seiner Studien lebte er als Hauslehrer auf verschiedenen adeligen Gütern in der Nähe von Königsberg.

In dieser Zeit begann Kant seine schriftstellerische Thätigkeit mit einer Reihe bald umfangreicherer, bald kleinerer Schriften philosophischen und naturwissenschaftlichen Inhalts. Wir erwähnen hier nur seine „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“ (1755), die er Friedrich dem Großen widmete und die ein astrophysikalisches System entwickelt, das in Bezug auf die Ansicht vom Bestande des Fixsternenhimmels mit dem Resultate der Herschel’schen Untersuchungen, dagegen in Betreff der Lehre vom Ursprunge der materiellen Welt mit der Laplace’schen Theorie wesentlich übereinstimmt, und, bis jetzt für die wahrscheinlichste aller Weltentstehungstheorien geltend, den Namen der Kant-Laplace’schen Theorie trägt. In dem genannten Jahre promovirte Kant und habilitirte sich zugleich an der Königsberger Universität. Er las nicht nur über Physik, Mathematik und physikalische Geographie, sondern auch über Logik, Metaphysik, Ethik und philosophische Encyklopädie, seit 1760 auch aber natürliche Theologie und Anthropologie.

Erst 1770 im Alter von sechsundvierzig Jahren wurde ihm die ordentliche Professur für Philosophie übertragen, und er bekleidete diese akademische Stellung bis 1797, wo Altersschwäche ihn zum Aufgeben der Vorlesungen bewog. In diesen Zeitabschnitt fallen alle seine epochemachenden Werke, insbesondere seine drei „Kritiken“, durch welche er eine völlige Umgestaltung der Philosophie vollbracht hat. Eine Fülle kleinerer Abhandlungen, die sich wie die Ranken um die großen Hauptstämme seiner philosophischen Arbeit schlingen, wurden ebenso wie sein umfangreicher Briefwechsel später in mehreren Bänden gesammelt und herausgegeben.

Die Form seiner größeren und grundlegenden Werke ist streng systematisch; dagegen zeichnen sich seine polemischen Aufsätze durch jene überlegene und doch graziöse Ironie aus, die bei aller Schärfe (wie z. B. in der geistreichen Satire auf Swedenborg „Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“) nie den Mann von Welt vermissen lassen. Als akademischer Lehrer, zu dessen Vorlesungen sich auch Bürger, höhere Beamte und Officiere einfanden, übte er einen weitreichenden Einfluß aus. Sein Vortrag war, wie sein Schüler und Biograph Borowski berichtet, nie gelehrt überladen sondern stets schumcklos, aber klar und anregend und durch eigentümlich scharfe und logische Gedankengliederung, wie durch Beispiele aus der Tagesgeschichte, Länder- und Völkerkunde so belebt, daß der Hörer ihm ohne Zwang auf die höchsten Höhen metaphysischer Abstraction zu folgen vermochte.

Wie in der wissenschaftlichen Form und der Diction seiner Schriften, war Kant auch im Leben durchaus nicht Pedant. Er liebte heitere Geselligkeit, geistig belebten Verkehr mit Frauen, eine wohlbesetzte Tafel und den Umgang weniger der gelehrten Welt als vielmehr des mittleren Bürgerstandes. Zu seinen intimsten Königsberger Freunden zählten z. B. ein Bankdirector, ein Oberförster und ein Kaufmann. Und in diesen Kreisen war die Gesellschaft des alten Junggesellen wegen seiner Jovialität ebenso geschätzt wie gesucht. Uebrigens hat er sich nie weiter als wenige Meilen von seinem Geburtsorte entfernt. Er starb in Königsberg, fast achtzig Jahre alt, am 12. Februar 1804. Daß seine Werke in alle neuere Cultursprachen, sogar in’s Lateinische übertragen wurden, ist selbstverständlich. „Wenn die Könige bau’n haben die Kärrner zu thun.“ -

Die erste und stärkste Säule, auf der das ganze Gebäude seiner Weltanschauung beruht, ist die „Kritik der reinen Vernunft“, deren hundertjähriges Jubiläum uns heute veranlaßt, das deutsche Volk an die unsterblichen Verdienste seines größten Denkers zu erinnern. Freilich stellen sich die Kant’schen Grundprincipien, wie sie in der „Kritik der reinen Vernunft“ und dann in den übrigen Hauptwerken entwickelt sind, zunächst als kritisch-negirende heraus, und in so fern hatte Kant Recht, seine Philosophie mit dem Namen „Kriticismus“ zu benennen. Es war der Kampf gegen die Jahrtausende alte Metaphysik mit ihrem weiten Netz von unerwiesenen Begriffen, gegen die er sein schneidiges kritisches Schwert schwang, indem er die Forderung aufstellte, daß, bevor über Welt, Gott und das Wesen der Dinge philosophirt werde, man erst die Natur des menschlichen Denkorgans näher untersuche und zusehe, wie weit in dem letzteren die Möglichkeit einer derartigen Erkenntniß liege.

Die Resultate dieser scharfsinnigen Untersuchungen legte er nun in der „Kritik der reinen Vernunft“ nieder. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, an der Hand dieses und der übrigen großen Werke Kant’s dessen philosophisches System zu entwickeln und wir bemerken nur, daß jener grandiose Gedankenaufbau, wie er in der „Kritik der reiner Vernunft“ entwickelt wird, in zwei Hauptflügeln sich präsentirt: in der „Transcendentalen Aesthetik“ und in der „Transcendentalen Logik“. Jene sucht die „Aprioriät“ unserer Raum- und Zeitanschauungen aus logisch-mathematischen Gründen zu erweisen; diese geht in ihrem ersten Theile, in der transcendentalen Analytik, darauf aus, die gesammten „Stammbegriffe“ des Denkens als nicht der Außenwelt, sondern unserem Geiste innewohnend und daher die Erkennbarkeit des wahren Seins der Dinge (Ding an sich) als unmöglich darzustellen, während im zweiten Theile, in der transcendentalen Dialektik, die sich hieraus ergebenden Widersprüche (Paralogismen und Antinomien der reinen Vernunft) und daher die Unhaltbarkeit des gesammten Inhalts der bisherigen

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