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verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

in allen möglichen Stellungen bald klettern, bald flattern, bald schweben, zeugt ebenso sehr von ihrer Behendigkeit, wie von ihrem großen ökonomischen Nutzen. Es giebt kaum eine heimische Vogelart, die sich mit unserem Meisenvölkchen in der nutzenbringenden Ernährungsweise messen kann. Man beobachte nur eingehend diese kleinen Wesen, wie sie durchschnittlich drei bis vier Mal des Tages ansehnliche Garten-, Hain- und Waldbezirke gewissermaßen systematisch durchziehen, so daß kein Baum, kein Gebüsch ununtersucht bleibt!

Aber unter dem niedlichen, ewig beweglichen Völkchen unserer Meisen gebührt wohl mit Recht den Schwanzmeisen doppelte Beachtung. Denn diese Meisensippe – in der Kunstsprache Orites genannt – vereinigt nicht allein alle Reize der Anmuth, Schönheit und Munterkeit, theilt nicht nur die ausgesprochene Nützlichkeit ihrer Verwandten überhaupt, sondern sie zeichnet sich auch vor allen unseren heimischen Meisen noch ganz besonders durch ihre Kunstfertigkeit im Nestbau aus. Ehe wir aber mit dieser äußerst interessanten Thätigkeit der rührigen Baumvögelchen unsere Leser vertraut machen, sei uns ein Blick auf das äußere Aussehen derselben gestattet!

Man denke sich diese Thierchen etwa um ein Drittel größer als deren Zeichnungen auf dem beigegebenen Bilde – und man hat eine Anschauung von ihrer natürlichen Größe. Ihr charakteristischer Körpertheil, der schlanke Schwanz, ist gut um 3,5 Centimeter länger als das Körperchen, das nur 6 Centimeter Länge mißt. Die Färbung beider Geschlechter stimmt sehr überein; nur ist die des Männchens schärfer und lebhafter. Aus der Zeichnung der alten Vögel auf dem Bilde geht schon hervor, daß der ganze Kopf, sowie Kehle und Brust mehr oder weniger entschieden weiß sind; an dem Kopfe des Weibchens (auf der Illustration der obere alte Vogel) zeigen sich hingegen über den Augen her, nach den beiden schwarzen Rückenpartien verlaufend, bald mehr, bald minder ausgeprägte mattgrauschwärzliche Streifchen, die beim ausgefärbten, alten Männchen nicht bemerkt werden. Die Bauchseiten und die Aftergegend haben einen braunrothen Anhauch, welche Färbung zwischen den schwarzen Rückenbändern und den Oberflügeln stärker hervortritt. Die Schwingen sind mattschwarz, die kürzeren (Unterarmschwingen oder die Schwingen zweiter Ordnung) weißgerandet; der Schwanz, beim männlichen Vogel sichtlich länger, ist sammetschwarz, staffelförmig gebildet und bis auf die vier längsten Federn derartig weiß gekantet, daß jede Feder bis zur Mitte mit weißem Rande und dann in der ganzen Spitze weiß ausgeschweift erscheint, was dem Schwanze auf der unteren Seite eine regelmäßige Zeichnung verleiht. In diesem freundlichen Kleide präsentirt sich der reizendste Vogel, dessen kurzes, halb in den Bartfedern verstecktes Schnäbelchen und die kleinen glänzend-schwarzen Augen den rundlichen Kopf noch zierlicher erscheinen lassen, während die Niedlichkeit des kurzen Körpers durch den schlanken, langen Schwanz noch erhöht wird. So sind denn auch die Thierchen, wenn sie unsere Gärten, die Haage, Haine und Laubwälder durchstreifen, kleinen buntweißen Federbällen oder Federbolzen ähnlich. Ihr schnurrender Flug und die Schnellkraft, mit der sie sich im rastlosen Fluge von Zweig zu Zweig werfen, rechtfertigen vollkommen unseren Vergleich.

Wir haben mit wahrer Freudigkeit und erhebender Genugthuung die Lebensweise dieser kleinen Ueberall und Nirgends in so manchem Jahre beobachtet und theilen die Resultate unserer Beobachtungen in Nachstehendem mit.

Der April ist oft kaum angebrochen, so beginnt auch schon unsere rührige Schwanzmeise ihren Nestbau. Aufgelöst sind die kleinen Gesellschaften, die zur Herbst- und Winterszeit so emsig unsere Gefilde und Wälder durchzogen; paarweise haben sie sich abgeschieden, heimlich und vorsichtiger als sonst zurückgezogen zum Nisten, da- und dorthin. Wir finden sie überall, hier in einem Haine inmitten eines Wachholderstrauches, eines Weißdornbusches oder anderen nicht über Manneshöhe hinausreichenden Gebüsches, dort im Walde auf Nadel- und Laubholzbäumen, auch wohl in unseren Gärten zwischen dem ersten Astquirl eines jungen Birnbäumchens oder in dem Geäst eines rothblühenden Weißdornes, wie auf unserer Illustration.

Wie in ihrem ganzen Wesen und Betragen entfaltet die Schwanzmeise vorzugsweise beim Nisten und Familienleben ein anziehendes interessantes Bild von lieblichem Naturleben. Ich habe seit Jahrzehnten einen geheimen Zug nach dem anderen diesen Naturkindern abgelauscht und freue mich hier, gleichsam zwischen Katheder und Publicum, die Ergebnisse meiner langjährigen Beobachtungen vortragen zu können.

Zur Anlage des Nestes sucht sich das Schwanzmeisenpaar eine Stelle auf einem Baume aus, wo sich der Stamm in mehrere Aeste theilt, oder es wählt sich eine Gabelverzweigung an einem Gebüsche. Sein erstes Bestreben ist, am Grunde der Ast- oder Zweigvertheilung eine rostartige Grundlage anzubringen. Die Thierchen tragen zu dem Ende Spinnengewebe und Thierwolle herzu und setzen diese Roste zwischen den Moos- und Flechtenüberzug der Niststelle verfilzend an. Je mehr derartiger rauher Ueberzug an denn Aesten oder Zweigen der Baustelle vorhanden, desto leichtere Arbeit finden die Baumeister. Bietet das Plätzchen jedoch wenig oder gar keinen Ueberzug – wie das meist in dem glatten Gezweige der Gebüsche der Fall ist – so sieht man die Vögel gewöhnlich ohne Unterlage die Wände des Nestes durch Spinnengewebe, Wolle, Bastschnürchen und feine Halme mit den benachbarten Gabelzweigen verflechten, hin und wieder sogar förmlich ankitten, wozu sie ihren Speichel benutzen.

Ist der ziemlich lockere Rost gelegt, so beginnt der Aufbau der Außenwandung des Nestes. Männchen oder Weibchen, eines um das andere, setzt sich inmitten der Unterlage und filzt und kittet unter Verwendung von Moos, Flechten, Puppengehäusen, Insectengespinnsten, Thier- und Pflanzenwolle nach und nach im Kreise um sich herum eine sehr zierliche Wand. Der Vogel gebraucht bei der Zubereitung der Baustoffe seinen eigenen Körper als Richtschnur und Maß, indem er sich auf seinen Fersen um sich selbst dreht, sodaß die Füße den Stütz- und Mittelpunkt oder den einen Schenkel, der Schnabel mit dem Vordertheile des Körpers den andern Schenkel eines Cirkels darstellen. So thürmt sich allmählich um den Baukünstler herum die runde Wand auf. Da aber das Nest der Schwanzmeise eiförmig und viel höher, als der Vogel selbst ist, gebaut wird, so ist derselbe genöthigt, seinen Standpunkt in der Mitte beim Höherwerden der Nestwand zu verlassen und von außen zu bauen und nachzuhelfen.

Namentlich geschieht dies bei der Fertigung des Ueberbaues und des kreisrunden Flugloches oder Fensterchens. Auch die Glättung und Ueberkittung der Außenseite der Wand, sowie des Flugloches bewerkstelligen unsere geschickten Baumeister hauptsächlich von außen und durch ihren Speichel. Flechten, selbst Fichtennadeln und Blättchen filzen sie mittelst Puppengehäusen, Gespinnsten und Wolle auf, und durch den Speichel befestigen sie dieselben noch mehr; sie ziehen die Stoffe durch ihr Schnäbelchen, um sie biegsamer und geschmeidiger zu machen, befeuchten sie und bewirken auf solche Weise das Verkitten und Glätten. Nach dem Aufbau der Außenwand geht es an die Fertigung der feineren Zwischenwandung, welche so geschickt mit den Außengerüste verflochten und verfilzt wird, daß man keine Scheidung außer etwa in dem verschiedenen Materiale der Schichten gewahrt. Nunmehr erst erfolgt die feinere Auskleidung und Glättung des vorher erst roh zubereiteten Flugloches und Gewölbes, und am schönsten und geschicktesten polstert endlich das Paar das Innere aus. Vom Grunde bis zum Dache werden die Wände dicht mit Federn bekleidet, deren meist nach unten oder seitwärts gekehrte Kiele in die mittlere Mooslage eingestülpt oder geheftet werden. Es bekundet sich eine sichtliche Vorliebe des Paares, vornehmlich des Männchens, zu Federn, wie denn eine fröhliche Betriebsamkeit, ein Wohlbehagen am ganzen Baugeschäfte bei den kleinen gefiederten Wesen in die Augen fällt. Alles geschieht mit Leichtigkeit und ungemeiner Grazie. Vorherrschend bethätigt sich die weibliche Schwanzmeise beim Nestbau, zeitweilig lösen sich beide Gatten aber auch ab oder unterstützen sich gegenseitig, und lieblich sieht es dann aus, wenn das Männchen in die schon zugewölbte Wohnung Bündel Baustoffe trägt oder Federn zum Fensterchen hineinreicht, was es selbst noch während des Brütens der Gattin thut.

Das vollendete Nest mißt in der Höhe 12 bis 15 und mehr Centimeter, in der Breite 8,5 bis 10 Centimeter, und das Flugloch hat nur 2 Centimeter Durchmesser. Die ganze Wohnung nähert sich, wie gesagt, der Eiform, aber die obere Wölbung hat eine Neigung nach vorn, sodaß das Flugloch etwas überbaut erscheint. Der untere Umfang des Nestes ist stets breiter, sodaß dasselbe sich nach oben mehr und mehr verjüngt, und da wo es an Aesten oder Zweigen lehnt oder haftet, sind seine Wände merklich dünner und haben Eindrücke, ein Zeichen, daß die Thierchen die harte Umgebung als haltbare Außenwand benutzen. Eine merkwürdige Elasticität macht sich an den Nestern bemerkbar, und auch neben ihrer schönen Ebenmäßigkeit haben sie eine harmonische, aus grünem, schwarzem, grauem, gelbem und weißlichen Flechtenkittwerk bestehende, der jeweiligen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1881, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_294.jpg&oldid=- (Version vom 12.9.2022)