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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

ihre kleinen Häuser und entrichteten den immer höher und höher steigenden Pachtzins, ohne einen Contract abgeschlossen zu haben, einzig und allein auf die Gnade des Agenten angewiesen. Sie wurden daher Tenants-at-will (Pächter aus Gnade) genannt. So lange sie nun politisch geknechtet und England gegenüber machtlos waren, mußten sie sich diese Gnade gefallen lassen, mußten froh sein, durch diese Gnade in ihrem schönen Vaterlande ein elendes Leben fristen zu können. Aber tief im Herzen des Volkes glühte der Haß gegen den fremden Landlord, genährt von der geschichtlichen Ueberlieferung, daß dieses gepachtete Land einst Eigenthum des Vorfahren des Tenants gewesen und ihm von dem Eroberer geraubt wurde. Auch bildete sich im Lause der Zeit ein eigenthümlicher Rechtsbegriff über die gegenseitigen Verpflichtungen des Landlords und des Tenant.

Die Agenten vertheilten mit der zunehmenden Parcellirung der Fluren ein ödes unbebautes Land an die Bauern. Dieses wurde von ihnen urbar gemacht; auf ihm errichteten sie aus eigenen Mitteln die nöthigen wirthschaftlichen Gebäude. Dadurch aber erwarben sie sich in der Meinung des irischen Volkes ein gewisses Recht auf das Land, das Recht des Pächters, das Tenant-right, welches, da es in der Provinz Ulster zuerst aufgestellt und behauptet wurde, das Ulster-right genannt wird. Nach diesem Rechte durfte der Landlord nicht ohne Weiteres den Pächter, wenn er seinen Zins nicht bezahlen konnte, aus dem Hof vertreiben, sondern er mußte ihm gestatten, daß ihn ein anderer Pächter ablöse, der ihm für die Meliorationen des Bodens und für die errichteten Bauten eine Entschädigungssumme zahlte. Und dieses Recht, welches in keinem damaligen Gesetzbuche stand, vertheidigten die Tenants mit Waffen in der Hand, und es wurde um dasselbe Blut auf Blut vergossen, bis es in gewissen Landestheilen wirklich anerkannt wurde.

Daß unter diesen wirthschaftlichen Verhältnissen der Ackerbau in Irland zurückgehen mußte, liegt wohl klar auf der Hand. Dazu baute der Ire, da in dem feuchten Klima Weizen und Roggen nicht immer gut gediehen, vorzüglich Kartoffeln, bei deren Mißwachs das Land regelmäßig von einer Hungersnoth bedroht wurde. Wohl eignete sich der Boden Irlands zur Anlage von Weiden und zur Cultur der Futtergewächse, aber diese Art Bodenwirthschaft konnte nicht auf den kleinen Parcellen, sondern nur auf großen Farmen mit Erfolg betrieben werden. Das erkannten die Landlords, und vornehmlich seit den Hungerjahren 1846 und 1847 gingen sie mit der praktischen Rücksichtslosigkeit eines englischen Kaufmanns an das „Bauernlegen“. Ueber die Erfolge dieser neuesten Expropriationspolitik erzählt uns ein Augenzeuge: [1]

„In den östlichen Counties Meath, Kildare etc. ist der typische irische Bauer gar nicht mehr anzutreffen. Er wurde nach dem Süden und Westen bis zum Ocean hin zurückgedrängt, und die Stelle, die er früher bearbeitete und bewohnte, wird jetzt vom Dampfpfluge befahren, oder ist in eine sich auf mehrere englische Meilen erstreckende Graswirthschaft umgewandelt. Da finden die vielen ‚Unions’ des sportlustigen Hochadels noch Jagdgründe, während deren in England immer weniger und weniger werden. Jeder fußbreite Streifen dieses Bodens ist ein Zeuge besonderen Menschenelends und besonderer menschlicher Grausamkeit; denn von hier wurden jene Tenants gewaltsam ausgetrieben, die nicht der Hungertyphus und die Cholera hinweggerafft haben. Von da stammen die meisten irischen Emigranten, die in Amerika, in Australien, in England eine neue Heimath fanden. Das ,Consolidirungswerk‘ wurde von hier aus westlich und südlich fortgesetzt, und wie weit es gelungen ist, das konnte ich während eines mehrmonatlichen Aufenthaltes in Irland an einem bestimmten Merkmale erkennen. Wo ich auf Fußwanderungen durch die Grafschaften verlassene steinerne Häuschen mitten in Feldern stehen sah, auf denen keine menschliche Seele zu erblicken war, da hatte vor Jahren der Zinseintreiber das unmenschliche Werk gethan, Leute, deren Väter und Urgroßväter sich hier zu Hause fühlten, unter Assistenz der Polizei und selbst gegen den Widerstand ganzer Dörfer, gewaltsam auszutreiben. Zuerst wurde das Dach abgehoben, wenn eben die Thür verrammelt war; dann wurden bei fortdauerndem Widerstände Steine in den offenen Wohnraum geworfen, und man erzählt, daß sogar in denselben hineingeschossen wurde, wahrscheinlich aber auch aus dem Häuschen hinaus, denn eine Waffe findet man in der ärmsten Hütte in Irland. Je weiter westlich ich kam, desto häufiger fand ich diese melancholischen entdachten Häuser, ein Zeichen dessen, daß hier die Ejections (Austreibungen) später stattfanden, sodaß die Spuren der Gewaltthat noch sichtbar waren, und in der Grafschaft Mayo fand ich einmal eine ganze Reihe verlassener menschlicher Wohnungen, alle ohne Dach, alle aus Stein, die Mauern ganz kahl, nicht einmal von etwas wohlthätigem Moos überzogen, das die Stätte des Elends verkleidet und dem Auge entrückt hätte. Keine Todtenstadt, kein von Wasser oder Feuer zerstörter Ort macht einen fürchterlicheren Eindruck als diese weithin sich erstreckende Reihe von Ruinen, deren jede ein agrarisches Verbrechen, bald vorn Agenten des Landlords, bald vom Tenant begangen, gesehen hat. Die von einem solchen Häuschen vertriebene Familie ist vielleicht auf einer Landstraße verhungert, oder sie ist auf dem Wege nach Amerika zu Grunde gegangen, und der Agent, der die Vertreibung anordnete, oder der Bailiff, der sie durchführte, wurden vielleicht, noch ehe sie den Ort verlassen konnten, durch einen von irgend welcher Seite kommenden Schuß niedergestreckt. Darum gelten aber auch diese Häuschen bei den Bauern für verflucht, und wehe Dem, der wieder auf eines derselben das Dach aufsetzen und es bewohnen wollte! Sie alle müssen stehen bleiben, so wie sie verlassen wurden, bis einmal der Wind sie niederbläst. Ringsumher ist aber an Stelle der vielen kleinen Bauernwirthschaften eine große englische Farm entstanden, auf der überhaupt nichts angebaut wird, sondern die ansehnlichen Heerden als Weideplatz dient.“

Das war das tiefliegende Uebel, welches beseitigt werden mußte, wenn in Irland ein wahrer Friede jemals herrschen sollte. Und als auch die nach O’Connel’s Tode so furchtbar gewordene fenische Verschwörung trotz der in Canada und England versuchten Putsche schließlich der eisernen Organisation der englischen Macht unterlag, als die politischen und religiösen Gegensätze zwischen den Iren und Anglosachsen durch Toleranz und Freiheit beseitigt waren, da verschmolz die irische Frage mit den Interessen der Tenants, die bei Weitem die Mehrzahl des Volkes bildeten, und sie wurde zu der gegenwärtig sich drohend erhebenden Landfrage in Irland. Weittragende Weltereignisse jüngster Tage haben ihr die schneidige Schärfe verliehen, mit der sie heute das feste Band englischer Rechte zu zerschneiden droht. Es ist bekannt, daß seit wenigen Jahren Amerika zu einer unerschöpflichen Kornkammer der alten Welt geworden, daß dank der Anwendung der Maschinen in der überseeischen Landwirthschaft, dank der Fruchtbarkeit des jungfräulichen Bodens der Westamerikanischen Staaten und dank den wunderbar hoch entwickelten Transportverhältnissen der merkantilen Flotten die neue Republik unsere Märkte mit Brodfrüchten überschüttet und trotzig selbst dem kornreichen Rußland eine gefährliche Concurrenz macht. Bekannt ist es auch, daß das plötzliche Auftreten des amerikanischen rothen Winterweizens auf dem Weltmärkte in den Jahren geschah, in welchen vor Kurzem Europa fast allgemein unter einem schweren Mißwachs litt und in denen Großbritannien und Frankreich von der transatlantischen Republik förmlich genährt wurden. Bei dieser Umwälzung des Getreidehandels, welche die Gegenwart beherrscht und welcher die Zukunft angehört, hat die englische Landwirthschaft am meisten gelitten. Es liegt eine tiefe Berechtigung in dem Bestreben der Landlords, den unrentablen Anbau der Brodfrüchte zu beschränken und in der Viehproduction ihr Heil zu suchen.

Wie unvorbereitet trat aber Irland in den ihm aufgedrungenen wirthschaftlichen Wettkampf ein! Von den 680,000 irischen Pächtern sind 230,000, das heißt über eine Million Individuen am Rande des Bankerotts – nein, im Bankerotte selbst! Sie können kaum in guten Jahren ihre Ausgaben bestreiten und sind in schlechten Erntejahren auf das Almosen ihrer amerikanischen Brüder angewiesen. Denken wir uns ferner, daß 526,628 dieser Pächter als Tenants-at-will nach einjähriger Kündigung aus ihrem Hof vertrieben werden können, daß also 2,600,000 Menschen sich in einer Art Sclaverei befinden, daß 227,370 solcher Familien in elenden einräumigen Hütten ohne Fenster und ohne Rauchfang ihr Leben fristen, und wir werden von der verzweifelt trostlosen Läge dieser Leute uns einen Begriff machen können. Nur der Wohlthätigkeit der civilisirten Welt und den Regierungs-Unterstützungen ist es zu verdanken, daß in den letzten Jahren der Hungertyphus Irland verschonte.

Da ist es wohl erklärlich, warum die Zahl der kleinen Pächter, die auf ein bis fünf Acker Boden sitzen, von 310,000 im Jahre

1841 auf 66,359 im Jahre 1878 gesunken war. Der unparteiische

  1. Vergl. „Jahrbücher für Gesetzgebung“. Heft 3 und 4. 1880.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_114.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)