Seite:Die Gartenlaube (1873) 849.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

kein beständiges Merkmal ist, glückte im Sommer vorigen Jahres dem berühmten Pflanzengeographen und Klimatologen Professor H. Hoffmann in Gießen. Er hatte ebenfalls seit vier Jahren Hederichpflanzen in einer abgelegenen Ecke des dortigen botanischen Gartens cultivirt und hatte die Freude, außer mehreren Uebergangsformen an zwei Pflanzen echte Rettigfrüchte zu erziehen. Da er den Verdacht, daß eine Hybridation mit Rettigpflanzen vorgekommen sein könnte, bei seinen Versuchen für ausgeschlossen hält, so dürfte damit der Beweis erbracht sein, daß die beiden Pflanzenformen, die man sonst als Angehörige zweier verschiedener Gattungen betrachten zu müssen glaubte, sogar einer und derselben Art angehören. Der letztere Umstand, die Verwandlung einer bis dahin für völlig beständig gehaltenen Fruchtform in eine sehr unähnliche, macht diese Entdeckung lehrreicher und beziehungsweise ärgerlicher als irgend eine ähnliche; sie gleicht einem Sprunge, der in rein morphologischer Beziehung vielleicht größer erscheint als der vom Menschen zum Affen. Die Gläubigen, die nichts von der Verwandlung der Arten wissen wollen, sondern sie alle für von Ewigkeit an unverändert halten, wie sie erschaffen worden sind, werden behaupten, der Teufel selber habe dem Professor Hoffmann ein paar Rettigfrüchte an die Hederichpflanzen gesteckt, nur um die Menschen zum Irrthum zu verführen. Bewahrheiten sich – wie wir nicht zweifeln – diese Versuche, und ist nicht etwa doch eine Blumenstaubvermischung vorgekommen, wie bei der vermeintlichen Verwandlung des Aegilops in Weizen, von welcher ehemals so viel Lärmen gemacht wurde, so wird der Rettig eins der wirksamsten Beweismittel für die Darwin’sche Theorie geben und wir müssen ihn künftig nachdenklicher und mit mehr Verstand genießen als bisher.

Carus Sterne.




Das Bild ohne Gnade.
Erzählung von A. Godin.
(Schluß.)


15.

Im Parke von Oliva! Dort brach das Eis, das Ernst’s widerstrebendes Herz nicht wollte thauen lassen. Die grünen Wege, welche er vor Jahren an Dora’s Seite durchzogen, die Wassersprudel, die er mit ihr hatte rauschen hören, die fernen Hämmer, welche sie damals Herzschläge des Thales genannt, schmolzen all’ sein Sträuben in widerstandslose Weichheit um. Sein Auge ließ nicht von ihr, während er, in einiger Entfernung hinter ihr schreitend, die lichte Gestalt durch die Laubgänge schweben sah. Er gab sich ganz und voll dem alten Zauber hin, ihm war, als läge nun mit einem Male nichts mehr zwischen ihnen, als ein Wort, das nur noch auszusprechen sei. Und wie ein Schicksalsspruch traf es ihn, als Das, was wir Zufall nennen, sie ihm als Gefährtin zu bedeutungsvollem Spiele gab.

Ein Loos, in heiter geselligem Kreise gezogen, hatte sie für ein kurzes Zwiegespräch in den Flüstergrotten zu seiner Partnerin bestimmt, als der Zufall – oder war es mehr? – sie gelegentlich eines bedeutungsvollen Spieles zu seiner Gefährtin machte. Das Wort, welches dort von ihren Lippen kam, sollte über seine Zukunft entscheiden. Als er Dora den Arm bot, um sie nach der Stätte zu führen, die ihm jetzt sein Verhängniß bedeutete, fühlte er ihre Hand auf seinem Arme zittern. In demselben Momente, als er zum ersten Male wieder die Berührung dieser geliebten Hand empfand, versank Alles, was sie von ihm geschieden. Und doch schritt er schweigend neben ihr her, schlug das Auge nicht zu ihr auf. Den ernsten Mann hatte ein traumhaftes Fürchten und Hoffen erfaßt. Ihm war, als würde der Hort, nach dem er die Hand ausstrecken wollte, vor ihm versinken, wenn das Zauberwort, das ihn heben sollte, zu früh ausgesprochen ward.

Jener Abend, wo er einst mit ihr den gleichen Weg gewandelt, stieg farbenfrisch vor ihm auf. Sie war damals noch nicht sein gewesen, aber schon sehnten sich die jungen Herzen zu einander. Wie hatten sie gescherzt! was erzählte sie ihm Alles von der geheimnißvollen Grotte, und wie verstummte all’ die Munterkeit, als Beide in den Höhlen einander gegenüberstanden, scheu und verzagt! Wie lauschten sie und konnten sich nicht zum ersten Worte entschließen, bis er endlich, nach herzklopfendem Schweigen, zuletzt doch nichts Anderes zu flüstern gewagt, als das Wort: „Welch unvergeßlicher Tag!“

Als er sie jetzt von seinem Arme ließ, um in die Höhle zu treten, begegneten sich Beider Augen. Ernst’s Herz schlug zum Ersticken. Er beugte sein Ohr gegen das dunkle Gestein – Alles stumm. Der bei Beginn des Spieles laut verkündeten Vorschrift entgegen, daß die Dame zuerst sprechen sollte, schien Dora sein Wort zu erwarten. Und doch konnte er sich zu diesem ersten Worte nicht entschließen – das ihrige sollte ihm Orakel sein. Tödlich lange Augenblicke vergingen. Er wandte den Kopf – ja, noch stand die lichte Gestalt in der Grotte drüben; ihr weißes Gewand fluthete auf den dunkeln Boden nieder. Ernst preßte die Lippen zusammen und lauschte von Neuem, als hinge sein Leben an dem Hauche von drüben.

Da drang ein Flüstern an sein Ohr, vernehmlich, als sei es Wange an Wange geathmet: „Vergieb – o vergieb!“

Seltsames Räthsel des Menschenherzens! Ernst’s Athem stockte. Flammen schlugen bis zu seinen Schläfen empor – was in ihm vorging, war unaussprechlich. Das eine Wort mähte urplötzlich Alles nieder, was eben noch so lebensvoll aufgekeimt: all die Qualen langer Jahre, all das Elend, welches ihr Treubruch ihm bereitet, stand vor ihm wie mit Flammenschrift, und zieh sie des Verraths am Heiligsten. Mit finsterer Stirn richtete er sich auf, stand einen Moment unbeweglich und trat dann, sich gewaltsam zusammenfassend, rasch in’s Freie.

Eine Secunde später schritt Dora an ihm vorüber und sah ihn mit erloschenem Blicke an. Unter all den Menschen auszuhalten, ward ihm unerträglich. Er benutzte den ersten Moment, wo er sich unbeachtet sah, um sich zurückzuziehen, und wanderte planlos die Laubgänge entlang, nur um keine Stimme mehr zu hören, kein fremdes Auge mehr zu sehen, und doch fühlte er sich zugleich so todteinsam, daß er mechanisch dem Rauschen des Wassers nachging, als etwas Lebendigem. Der Bach führte ihn zu einem von Bäumen umgebenen Rondell, wo das Wasser, zum kleinen Katarakt gesammelt, von dem höher gelegenen Wege aus über Felsgestein niederstürzt. Hier war es still und menschenleer. Ernst ließ sich wie gebrochen auf eine der Steinbänke nieder, die das Rund umgeben, und barg seine hämmernden Schläfen in beide Hände. So weh wie heute war ihm in stürmischen Jugendtagen nie zu Muth gewesen.

Lange mochte er so regungslos gesessen haben, als ein leises Geräusch, wie von berührtem Laub, ihn aufschauen ließ. Seine Hand umfaßte krampfhaft die steinerne Lehne. Er sah ein weißes Gewand schimmern. Dora schritt gesenkten Hauptes über den Steg, der leichten Bogenbrücke zu, welche das Rondell abgrenzt, und blieb dort der Cascade gegenüber stehen. Beide Arme auf das Brückengeländer gestützt, blickte sie unverwandt nach dem schäumenden Wasserfall. In tausend Silberperlen aufsprudelnd, stürzte die brausende Fluth über dunkle Felsblöcke nieder, leidenschaftlich wie ein Herz, das in wildem Strudel vergehen möchte. Sonnendurchleuchtetes Laub schimmerte wie Smaragd darüber hin, und von Secunde zu Secunde küßte der sinkende Sonnenstrahl die lichten Blätter, das feuchte Gestein an neuer Stelle, Alles vergoldend. Gleich Wächtern des schweigenden Rundes ragten ringsum hohe Bäume, deren Wipfel sich zueinander neigten und die bereits dämmernde Schatten über die Stelle warfen, welche Ernst einnahm. Er blickte unverwandt nach der regungslosen, vom Abendlicht überglänzten Gestalt.

Dora stand mit fest ineinander gefalteten Händen, den schönen Kopf tief gesenkt; er sah nur ihr Profil, doch sah er, wie Tropfen auf Tropfen über die blasse Wange niederstürzte. Ohne seine Stellung zu verändern, rief er leise. „Dora!“

Nur wie ein Hauch klang der Name durch die Stille, doch traf er das Ohr, dem er galt. Heftig zusammenschreckend wandte sich Dora um, den Blick in die Lüfte gewendet, als hätten ihre eigenen Träume sie mit einem längst verklungenen Namen gerufen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_849.JPG&oldid=- (Version vom 26.12.2018)