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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


excellirt hatte, und gestand sich’s mit vielem Vergnügen zu, daß die Dormeuse, welche sie heute trug, ein wahrhaftes Meisterstück ihrer Kunstfertigkeit sei. Und dabei, während sie hin und wieder einen Schluck Kaffee und einen Bissen Zwieback genoß, lebte in ihrem Herzen die stille Hoffnung auf das Wiedersehen des Berliner Flautisten wie eine von Zauberkraft emporgetriebene Blüthe auf.

„Es ist wirklich eine Feindseligkeit des Schicksals, daß es uns solche wichtige Momente in unserem Leben, wie meine gestrige Begegnung mit dem Herrn Fritz, nicht vierundzwanzig Stunden voraus ahnen läßt, damit man sich doch respectabel dazu ankleiden könnte,“ sprach sie dann etwas unwirsch vor sich hin. „Was muß der Mann von mir gedacht haben, als er mich in dem schon etwas verschossenen apfelgrünen Rocke und der Lila-Contouche sah! Schändlich! Just wenn man Epoche machen kann und auch will, steht man wie ein Aschenbrödel da.“

Diese sie in ärgerliche Stimmung versetzende Betrachtung über die Rücksichtslosigkeit und Tücke des Schicksals in solchen delicaten Angelegenheiten erlitt sofort eine Ableitung auf ganz andere Gedanken, denn durch die Stille des sonnendurchleuchteten Morgens wurden vom Palais drüben Flötentöne hörbar. Frau Marianne sprang wie elektrisirt auf, öffnete das Fenster und horchte hinaus. Ob es der Herr Fritz sei, der die Flautuse so schön blies? Dieser Gedanke beschäftigte sie ausschließlich. Die mit großer Virtuosität geblasenen Passagen klangen so rein und glockenhell ihr in’s Ohr, daß sie ganz und gar ihr Frühstück vergaß, und als der Unsichtbare die prächtige Fantasie, die er seinem Instrumente entlockt hatte, endlich schweigen ließ, hielt sich die mit einer gleichsam andächtigen Hingebung Lauschende überzeugt, nur ein Künstler, wie Herr Fritz einer sei, könne der Schöpfer dieses melodischen Genusses gewesen sein, obwohl sie nicht die geringste Berechtigung für diese Annahme hätte geltend machen können.

Die Frau Castellanin gehörte zu Denen ihres Geschlechts, welche einen großen Fond von Reizbarkeit im Gemüthe tragen und dadurch leicht zu Selbsttäuschungen verführt werden. Ihre hübsche jugendliche Erscheinung war die Ursache gewesen, daß selbst Cavaliere, die im gräflich Mosczynskischen Hause viel verkehrten, es nicht verschmäht hatten, ihr, natürlich unter dem Deckmantel des Geheimnisses, die Cour zu machen. Ihre zwölfjährige Ehe gehörte zwar zu den friedlichen, wenn auch nicht zu denen, wo wirklich beide Gatten sich durch einander beglückt fühlen. Ihr Mann war ein Vielschwätzer, und die Ueberzeugung Mariannens, daß ihm Selbstachtung fehle, weil seine Verheirathung mit ihr nur ein Ergebniß des Eigennutzes sein konnte, da er in ihr einen beständigen Rückhalt in der Gunst der Frau Gräfin sah, ließ ihr seinen Tod nicht sehr zu Herzen gehen. Sie fühlte keinen Antrieb in sich, Wittwe zu bleiben, und Herrn Nehemia Drill’s unterwürfige Verehrung für ihre Person hatte die beste Aussicht, sie zur Verbindung mit ihm zu gewinnen, obwohl für sie etwas Verletzendes in dem Bewußtsein lag, daß der Mann mit den strammen Schenkeln die Hoffnung auf den mit ihrer Hand zugleich zu erhaltenden Castellansposten als einen zuweilen sich verrathenden Hintergedanken in sich trug. Erst durch sie gelangte er dann zu einer guten einträglichen Stellung im gräflichen Hause; ohne sie blieb er Das, was er war, ein Diener von sehr untergeordnetem Range. Sie konnte nicht stolz auf diese Errungenschaft sein … der Eigennutz war auch bei ihm die Triebfeder seiner Neigung zu ihr.

Wie ganz anders hatte der Herr Fritz ihr gegenübergestanden! Er, ein Künstler, ein Flautusenspieler gewiß ersten Ranges – sonst hätte ihn der König nicht nachkommen lassen – und dann seine imponirende Ruhe, seine kurze Redeweise, als wäre er nicht gewöhnt, viele Worte zu machen, und als müsse Jeder damit zufrieden sein, wenn er überhaupt gewürdigt werde, daß er mit ihm sprechen dürfe, und schließlich seine großen zauberischen Augen … ha, diese Augen hatten so fest auf ihr geruht, daß sie deren wunderbaren Blick nicht vergessen konnte. Eins nur beunruhigte sie. War er verheirathet oder Junggeselle? Der erstere Stand hätte natürlich alle ihre Träumereien niedergeschlagen; aber Frau Marianne besaß eine große Ausdauer im Capitel der Hoffnungen. Mit großer Befriedigung war sie auf den Gedanken gekommen, er könne Wittwer sein. Das erhielt sie bei frohem Muthe. Sie lebte sich ebenso rasch, weil es ihrem Wunsche entsprach, in diese Vorstellung hinein, wie in die Annahme, nur er könne der Künstler gewesen sein, der die Flautuse so meisterhaft geblasen. Um über alles Das in Klarheit zu kommen, bedurfte es nur einer Begegnung mit ihm, und eine solche herbeizuführen, erschien ihr gar nicht so schwierig. Herr Nehemia Drill sollte den Kammerdiener des Königs befragen, wann sein Herr ausreite. Bisher war das jeden Vormittag geschehen, und warum sollte heute gerade eine Ausnahme stattfinden? Der Saal bedurfte einer Reinigung und bei dieser Gelegenheit hoffte sie Herrn Fritz zu sehen.

Sie hörte Doris im Hausflur mit Nehemia sprechen, schloß eilig das Fenster und setzte sich an den Kaffeetisch. Gleich darauf trat das Fräulein in die Stube.

„Mein Himmel, wie blaß Sie aussehen!“ rief ihr die Castellanin entgegen, „so übernächtig. Aengstigen Sie sich doch nicht um den Junker Willi. Der sitzt sicher im Lager und lacht über sein glücklich bestandenes Abenteuer. Müßte den nicht kennen!“

Diese Tröstung wollte aber bei dem Fräulein nicht verfangen. Doris ließ sich ganz ermüdet auf dem Kanapee nieder und erzählte, daß sie erst gegen Morgen, als sich schon das erste Streiflicht des Tages an der Wand der Schlafkammer bemerkbar gemacht, eingeschlummert sei.

„Und haben ganz köstlich geschlafen, Fräulein Doris,“ sprach Frau Marianne. „Bin bei Ihnen drinn gewesen und habe mich, auf den Zehen schleichend, leise wieder herausgemacht, um Sie ja nicht zu wecken.“

„Sie ist immer gut und sorgsam, Frau Castellanin,“ entgegnete die junge Dame. „Wenn ich nur die Angst von mir scheuchen könnte, aber die lastet wie Centnergewichte auf mir.“

„Was denn für eine Angst, Fräulein? Junker Willi ist ja glücklich entkommen und der preußische Sachsenfresser … Köpping nannte er ihn … hat seine Ohrfeige in aller Ruhe einstecken müssen. Das ist doch eher zum Lachen, als zum Aengstigen.“

(Schluß folgt.)




Alte Städte und altes Bürgerthum.
2. Heilbronn am Neckar.


Es ist ein zwar durchaus nicht großartiges, aber äußerst liebliches, herzerfreuendes Landschaftsbild, das vor den Blicken Desjenigen sich ausbreitet, welcher der alten Neckarstadt Heilbronn einen Besuch macht. Hat der Reisende, von Süden her kommend, dem prachtvollen Bahnhof der württembergischen Landeshauptstadt sich entwunden, so besteigt er in anmuthigen Windungen der Bahnlinie, von welchen aus die freundlichsten Ausblicke auf die Residenz und ihre reizenden Umgebungen sich bieten, ein Plateau. Von der Höhe desselben bei der Knotenstation Bietigheim herabgefahren begrüßt er den Hauptfluß des Landes, den Neckar, da, wo dieser, am Fuße der alterthümlichen Landstadt Besigheim, die grünen Gewässer der dem Schwarzwald enteilten Enz in sich aufnimmt. Hier engt das Neckarthal sich so sehr ein, daß einer der dem gewundenen Stromlaufe folgenden Rebenhügel durch einen Tunnel von beträchtlicher Länge durchstochen werden mußte. Dem Dunkel dieses Tunnels entkommen, eilt die Locomotive an dem alten Lauffen vorüber, wo rechts von hoch über dem Flusse sich erhebendem Gemäuer die stattliche Hauptkirche dem Reisenden zuwinkt. Neben derselben birgt sich die kleine, aber durch ihre reine Gothik interessante Regisuinde-Capelle, während links vom Geburtshause Hölderlin’s, einem zu dem ehemaligen dortigen Kloster gehörigen Gebäude, her die zum hundertjährigen Geburtsfeste des unglücklichen Dichters (geboren 1770) gestiftete, jüngst durch eine ansprechende Feier inaugurirte metallene Portraitbüste ihm entgegen blinkt, welche dessen Züge in überraschender Jugendschöne wiedergiebt. Bald öffnet sich die Enge, welche Lauffen umschließt, zu einem weiten, lachenden Thale, umspannt von einer Reihe von Hügeln, welche in allen ihren sonnigen Halden mit Reben bepflanzt und oben meist mit Wäldern bekränzt sind, und in dessen Mitte die zahlreichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 822. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_822.JPG&oldid=- (Version vom 22.5.2019)