Seite:Die Gartenlaube (1873) 820.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


rapide Muskelkraft entwickelt hatten, daß er im gleichen Augenblick, als das Brett unter ihm wich, sich an dem Eisengeländer anklammernd, dem Mauerrand mittelst eines gewaltigen Schwunges mit den Fußspitzen als Haltepunkt erreicht und sofort über dasselbe gesprungen war.

Der Wagen donnerte auf dem unebenen Wege fort. Alles das geschah so schnell, daß die beiden Personen im Parke von Dem, was sie eben mit Augen gesehen, wie betäubt waren. Das Erstaunen des hinter dem Strauchwerke Lauschenden wuchs aber ebenso bedeutend wie das der jungen Dame, als diese den auf so ungewöhnliche Weise in das Mosczynskische Territorium sich Einschmuggelnden erkannte und seinen Namen „Willi!“ rief.

„Ah, Du hier, Schwester Doris? Das ist ein Glück für mich. Wahrhaftig, mein Stern meint es gut mit mir.“ Mit dieser Erwiderung eilte der kühne Springer auf die junge Dame zu, die sich von der Moosbank erhoben hatte. „Daß ich Dich hier finde, ist mir ein Zeichen, daß der König ausgeritten ist; sonst hättest Du Dich wohl nicht in den Park gewagt,“ sagte der junge Mann rasch. „Habe ich recht vermuthet, Doris?“

„Ganz recht, Willi, und ich habe diese Gelegenheit benutzt, um nur ein wenig mich auszugehen, den frischen Aushauch der Bäume zu athmen. Ach, es ist schrecklich, immer und immer, wie ein gefangener Vogel im Käfig, in der Stube sitzen zu müssen, deren Kleinheit fast erdrückend wirkt. – Aber sage mir nur um’s Himmelswillen, was treibst Du denn für Possen? Warum kommst Du nicht zum Thore, wie jeder andere vernünftige Mensch, herein? Das ist noch das Beste bei der ganzen königlich preußischen Wirthschaft hier, daß die Wachtposten ganz und gar nicht auf die Leute aufpassen, die zu uns hereinkommen.“

„Ja, Kind, daß ich nicht so frank und frei wie jeder andere vernünftige – wohlverstanden, vernünftige! – Mensch hereinkommen kann, hat seinen guten Grund. Sollst’s gleich hören. Rücke zu, Doris!“

Nachdem er sich neben ihr niedergelassen, redete er weiter: „Daß man mich für einen Tollkopf hält, je nun, ’s ist ’was daran; ich mag’s gar nicht leugnen, und zu allem Unglück bin ich noch über die Möglichkeit verliebt … weißt ja, in die kleine, wunderhübsche Karoline Vitzthum. Es giebt nichts Langweiligeres in der Welt als das Lagerleben, nicht zum Aushalten, sage ich Dir, vielmehr zum Umkommen. Da fasse ich gestern Abend den Entschluß, einen Abstecher in die Residenz zu machen, und heute Morgen saust mein Cäsar auf gut Glück nach hier, natürlich nicht auf der Straße, die zwischen uns und den Preußen als neutraler Boden für den Courierwechsel und dergleichen Ueberraschungen angesehen und respectirt wird, denn ich hätte da einen Paß mit unseres Königs Unterschrift vorzeigen müssen. Die preußischen Husaren kriegten mich auf’s Korn und die Kerls reiten wie der helle Teufel; aber mein Cäsar hat eine eisenbeschlagene Lunge. Es ging wie im Fluge mit ihm, und trotz einiger mir nachgeschickter Kugeln kam ich glücklich nach Räcknitz. Dort ließ ich Cäsar beim Bauer Ulbrich stehen, der, wie Du weißt, Alles, was Stall und Feld gab, an die Hausverwaltung der Frau Gräfin Mosczynska bis Dato abgeliefert hat, jetzt aber nichts mehr abliefern kann, weil ihm die Preußen Vieh, Futter und Getreide weggenommen haben. In einem Planwägelchen fahre ich ungehindert in die Stadt – und komme zu spät. Karoline ist mit ihrer gnädigen Mama bei Holzendorfs zum Diner geladen, nach vier Uhr erst zu sprechen. Die Zeit von vier Stunden todtzuschlagen, gehört schon unter die Künste, wenn man sie nicht geradezu verschlafen will; gehe also zu Zimmermann, dem Traiteur am Neumarkt bei der Moritzstraße. Alles gut dort, Speisen und Weine. Kommen viele Pensionärs, Angestellte aus den Collegien, mit einem Worte, gute Gesellschaft hier. Trifft mich doch fast der Schlag, als ich den Hauptmann von Köpping vom Bataillon Neuwied, das einen Theil der hiesigen Garnison ausmacht, eintreten sehe. Du erinnerst Dich doch, Doris, des stark angetrunkenen rüden Officiers, der wegen Dir mit Major von Wangenheim in Conflict gerieth und ihn zum Duell forderte, nicht wahr?“

„O gewiß. Dieser Mensch ist mir die einzige unangenehme Erinnerung an unseren vorjährigen Aufenthalt in Berlin,“ antwortete die Gefragte.

Der Jagdjunker fuhr fort: „Daß er auch sofort, als er meiner in der Gaststube ansichtig wurde, den Entschluß faßte, mit mir anzubinden, sah ich an seinem rothen Gesichte. Er war kaum vermögend, seine bösartige Freude zu verbergen. Der Zufall wollte, daß er mir gegenüber zu sitzen kam, und es dauerte nicht lange, als er über unseres Königs Majestät zu schimpfen anfing, demselben schändliche Titel beilegte und dann ein höchst ehrenrühriges Raisonnement über die Königin und die Mitglieder der königlichen Familie anhob. Keiner der Gäste wagte, den Lümmel von Hauptmann auf die nöthige Rücksichtnahme aufmerksam zu machen; mehrere eilten sogar fort, weil sie ein schlechtes Ende dieser Tafelfreude voraussahen. Ich allein erhob mich und sagte dem Elenden, daß seine Schimpf- und Lästerbravade sicher nicht mit der Absicht seines königlichen Herrn, der alle Höflichkeitsformen gegen unsern König und Allerhöchstdessen Familie streng beobachte, übereinstimme, und rieth ihm an, zu schweigen. Aber nun begann der Mensch einen Scandal so gemeiner Art, daß ich ihm zurief, nur ein so Nichtswürdiger, wie er sei, könne so gemein sein. Das machte ihn vollends rasend. An den Fenstern vorübergehende Soldaten seines Bataillons schrie er herein, mich zu arretiren. Diese Feigheit bezahlte ich ihm jedoch mit einer Ohrfeige prima Sorte, daß er an die Wand fiel. Den Eintritt der Soldaten, die noch nicht wußten, weswegen sie hereingerufen worden waren, benützte ich, um die Gaststube zu verlassen, doch kaum war ich auf dem Markt im Freien, als sie die Hetze nach mir begannen; aber sie lief schlecht für sie ab. Mit gezogenem Hirschfänger entsprang ich auf der Pirnaischen Gasse in’s Judenhaus,[1] wo früher ein Freund von mir wohnte, weshalb ich die Oertlichkeiten dieses großen Gebäudes kenne. Die in’s Schloß geworfene Thür und der von mir schnell vorgeschobene Riegel machte eine Arretur unmöglich. Ich entkam über die Gartenmauer in den Hofraum eines Hauses der Rampeschen Gasse, wo ein Zimmermann, dessen Sohn bei der königlichen Jägerei als Unterpiqueur angestellt ist, mich glücklich hierher spedirt hat. Nun, Doris, weißt Du Alles. Ich höre nicht auf, Tollheiten zu machen. ’s ist ein Unglück, aber wer kann’s ändern? Ehe der Morgen anbricht, muß ich von hier fort. Ich werde gleich neben Eurem Wohnhause die Mauer übersteigen und mich dann nach Räcknitz zu meinem Cäsar begeben, der mich hoffentlich gesund und heil wieder nach Struppen in’s Lager bringen wird.“

„Man kommt mit Dir aus einem Tod in den andern,“ sagte das junge Mädchen.

„Das trifft, Doris, trifft auf’s Blatt; aber jetzt komm’! Ich habe Hunger und brauche auch Ruhe,“ mahnte der Jagdjunker. „Wahrhaftig, Kind, das soll meine letzte Tollheit gewesen sein … ich werde nun ein frommer Waldbruder.“

„Als Jagdjunker bist Du ja schon bei der Waldbrüderschaft,“ entgegnete Doris lachend. „Mit Deiner Frömmigkeit wird’s aber immerdar schlecht bestellt bleiben, denke ich mir.“

Der hinter dem Strauchwerk Stehende blickte den sich Entfernenden mit einem Gemisch von Staunen und Heiterkeit nach, das sich, als sie zwischen den Bäumen seinen Augen entschwunden waren, in ein Selbstgespräch auflöste. „Der Mensch bleibt immer Lehrling,“ redete er vor sich hin. „Wenn er es am wenigsten denkt, drängt sich ihm eine Lehre auf, welche, läßt er sie unbenützt, ihn in Gefahr bringen kann.“ Seinen Blick nach dem Palais zurückwendend, fuhr er fort zu sich selbst zu sprechen: „Ich befinde mich da auf einem sehr ausgesetzten Posten. Wer bürgt dafür, daß es nicht noch andere Tollköpfe giebt, die denselben Weg, den dieser Piquebube hier herein als einen sicheren in Ausführung brachte, ganz praktisch finden, um mich nächtlicher Weile in aller Gemüthlichkeit aufzuheben? Dem muß man im Voraus begegnen mit einem Grenadierpiket … das ist eine Abhülfe. Ich werde die betreffende Ordre geben.“

Langsam verließ er seinen bisherigen Standort, nach dem Palais zurückgehend. „Doris heißt die junge Dame … Doris … der Name hat guten Klang bei mir … Doris Ritter … arme, arme Doris!“

In den so ernsten Gesichtszügen des Mannes zeigte sich eine tiefe Erregung bei diesem Rückblick. Eine schmerzliche Jugend-Erinnerung mochte in diesem Augenblicke wieder vor seine Seele treten. Doris! Eine Welt voll Wonne und Schmerz, voll höchsten Glückes und tiefster Resignation tauchte bei diesem Worte in dem Dahinwandelnden auf. Ueber seine Stirn glitt es wie ein Schatten der Wehmuth und doch lag in seinem Auge etwas wie Indignation,

  1. Die alte Post.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_820.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)