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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Gebieten des Lebens, vornehmlich dem wirthschaftlichen, liegt meiner Ansicht nach das Geheimniß der Erfolge dieser merkwürdigen Secte der christlichen Kirchen.

Eine der weniger bekannten Schöpfungen dieser Art ist die Zion-Cooperative-Mercantile-Institution. Die „Z. C. M. I.“, wie sie in der amerikanischen Geschäftssprache kurz bezeichnet wird, ist eine großartige Productiv- und Verkaufsgenossenschaft, gegründet auf Actien für fünfzig Dollars, deren Unterbringung bis zum Gesammtbelauf von einer halben Million Dollars von vornherein durch Ursprung und Zweck des Unternehmens, als eine wirthschaftliche Stütze der Kirche, gesichert war. Wir besuchten das Hauptdepot in einem der schönsten steinernen Gebäude der Stadt, welches natürlich Eigenthum der Stiftung ist. Dort wurden wir von Herrn M.’s Bruder, der, ebenfalls früher Lehrer, ihm nachfolgte, empfangen. Er ist einer der Leiter des natürlich auch durch Young und zwar im Jahre 1868 gegründeten Instituts. Nach Young’s eigener Erklärung belief sich im Frühjahr dieses Jahres das einbezahlte Actiencapital auf nahe 750,000 Dollars. Das Waarenlager hatte einen Werth von anderthalb Million Dollars. Die Einkäufe für das zweite Halbjahr 1872 betrugen anderthalb Million Dollars Papier und 140,000 Dollars Gold. Die in sechs Monaten gemachten Geschäfte erreichten die Summe von zwei und einer halben Million Dollars und die für das letzte halbe Jahr ausbezahlte Dividende betrug zehn Procent.

Auf der Geschäftsempfehlungskarte sehen wir den Bienenkorb, das Symbol der Mormonen, mit der Umschrift: „Holiness to the Lord“. Auch Herrn M.’s Bruder bewährt in dieser Stellung die angeborene sächsische Vielseitigkeit. Die Verkaufshalle und die Waarenlager an Schnitt-, Kram- und Eisenwaaren, Mobiliar, Ackerbaugeräthen und Maschinen etc. kann man kaum eleganter und reichhaltiger in einer der großen Städte des Ostens finden. Alles, was der tägliche Bedarf erfordert, ist hier und in den zahlreichen Filialgeschäften der Stadt und des Territoriums zu haben. Die Institution hat auch eine Apotheke. Sie fabricirt auch in verschiedenen Spinnereien und einer Schuhwaarenfabrik viele ihrer Verkaufsartikel selbst. Die Kundschaft und die gute Rente kann natürlich bei der ganzen Organisation nicht fehlen. Auch das Theater der Salzseestadt, welches wir mit Herrn M. besuchten, ist kein Privatunternehmen; auch da bethätigt sich der Mormonismus. Der Prophet beschaffte die Mittel, hundertfünfzigtausend Dollars, zu dem kostspieligen Bau des stattlichen Gebäudes. Die Schauspieler sind großentheils mormonische Dilettanten; Repertoire und Leitung stehen unter Brigham’s Einfluß. Das Innere ist elegant, in Weiß und Gold decorirt, die Sitzplätze der vier Ränge sind freilich Holzbänke, nur die Sperrsitze gleichen denen unserer Theater. Der Prophet hat hier natürlich eine Reihe reservirter Plätze für seine Gattinnen, Söhne und Töchter; ihm selbst ist eine prächtig ausgeschmückte Prosceniumsloge gewidmet.

„The mixed marriage“ war der ominöse Name des Stückes, welches heute mit einem Gast aus New-York in der Hauptrolle gegeben wurde. Der Inhalt bestand, kurz gesagt, darin, daß ein junger Mann von zwei Frauen geliebt wird, allerlei böse Schicksale, ja sogar die Verurtheilung zum Tode erfährt, und zuletzt neben der einen ihm bereits angetrauten Auserwählten die andere, welche nicht von ihm lassen will, als „Schwester“ acceptirt. Jeder Act endete natürlich mit einem Knalleffect und zwar unter gehöriger Steigerung: der erste mit einer Ohnmacht, der zweite mit einem Fluch, der dritte mit einem Durchbruch durch das Eis, der vierte mit einem tödtlichen Axthieb. Dieses Alles wurde aber durch das in bengalischem Feuer strahlende Schlußtableau überboten: man sieht den Bösewicht am Galgen hängen – in der That ein unverdientes Schicksal, denn der treffliche New-Yorker Schauspieler war es allein, der dem abgeschmackten Stück das Interesse des Publicums zu erhalten wußte. Glücklicherweise betreibt der Bösewicht das Geschäft hier in der Salzseestadt schon seit mehreren Wochen, ohne merklichen Schaden an seiner Gesundheit zu leiden. Das Stück wurde schon seit längerer Zeit allabendlich gegeben, daher die Leere des Hauses. Nur hie und da sieht man eine junge, hübsche Mormonin, gekleidet in die schreiend bunten Farben der amerikanischen Mode. Auch die beiden Herren Söhne des Präsidenten Young, welche vor uns auf den sonst leeren Sitzreihen der Young’schen Familie Platz genommen hatten, schienen das Stück schon oft gesehen zu haben; die Burschen, im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren, langweilten sich; der eine hatte sich der Länge nach ungenirt auf einer Sitzreihe gelagert; zur Abwechselung bewarf er einen anderen Burschen, der ebenfalls auf einer leeren Bank lag, mit Crackers. Ein zweiter dieser hoffnungsvollen Blüthen des zukünftigen Mormonenthums schaukelt sich, den Hut auf dem Kopf, auf einem Rollstuhl, der extra zur Benutzung für eine der älteren Frauen Brigham Young’s hingestellt ist.

Unter der Veranda unseres freundlichen Hôtels bei einer Tasse Kaffee sprach sich Herr M. uns gegenüber offen und schlicht über die Mormonenlehre und das, was er für das Wesentliche derselben halte, aus. Er ist felsenfest überzeugt, daß die Mormonenkirche noch eine große Zukunft habe und daß alle Verfolgungen und Anfeindungen, welchen sie besonders durch die „Frömmler in Massachusetts“ ausgesetzt sei, ihr nur zum Segen gereichen können. Auch die Polygamie vertheidigte unser mormonischer Landsmann und wies darauf hin, daß sie einen Schutz gewähre gegen die Prostitution (!). Die Geschichte seiner Bekehrung gebe ich so, wie sie mir nach seiner Erzählung im Gedächtniß liegt. Hier ist sie:

„Ich war Lehrer an einer der Volksschulen in Neustadt-Dresden und gehörte einem Verein an, in dessen Kreise populärwissenschaftliche Vorträge gehalten zu werden pflegten. Die Reihe kam an mich, und ich wählte, angezogen durch die Lectüre des Buches von Moritz Busch, das Thema: ‚Die Mormonenlehre‘. Allein ich wünschte mir eine selbstständigere Auffassung, ein gründlicheres Verständniß von der Sache zu verschaffen, und schrieb, da ich wußte, daß die Mormonenkirche Missionäre, namentlich in den skandinavischen Ländern, unterhalte, an einen Freund, der in Kopenhagen lebte. Einige Zeit verging, ohne daß ich Antwort erhielt. Die Mormonenlehre beschäftigte mich indessen vielfach, da ich mir sagen mußte, daß viele Zweifel, Widersprüche und Ungewißheiten, welche mir bisher beim Religionsunterricht über manche wichtige Punkte geblieben waren, in der Mormonenlehre auf die einfachste, für mich zusagendste Weise gelöst waren. Etwas Außerordentliches sollte sich aber zutragen, um mich zu bekehren. Ich gab dem Sohne einer polnischen Gräfin Privatstunden. Eines Tages, als ich zur gewöhnlichen Zeit meinen Schüler besuchte, war derselbe verhindert, und ich daher genöthigt, im Gartensalon des Hauses zu warten. Hier eine längere Zeit allein und über allerlei nachdenkend, vernahm ich plötzlich mit dem geistigen Ohre ein längeres Gespräch, das ich mit einem unbekannten Manne führte, zuerst über gewöhnliche Dinge, dann über Grundfragen des Mormonismus. Nach einiger Zeit trat Jemand ein – Alles war vorüber.

Wer schildert mein Erstaunen, als ich bald darauf den Besuch eines Fremden empfing, der sich mir als ein Aeltester der Mormonenkirche, aus Kopenhagen stammend, vorstellte. Bei meiner damaligen geringen Kenntniß der englischen Sprache und da er des Deutschen nicht mächtig war, wurde das Gespräch nur mangelhaft geführt. Unter der Firma des Sprachunterrichts blieb der Aelteste einige Zeit in Dresden und ich eignete mir von dem Manne, der eine stattliche, hohe Gestalt hatte, und das Wort mächtig führte, doch Einiges über die Mormonenlehre an.

Eines Abends ging ich mit ihm über eine der Elbbrücken, und hier begann Wort für Wort jenes Gespräch, das ich damals im Gartensalon der Gräfin im Voraus vernommen hatte. Seitdem stand mein Entschluß fest, zur Mormonenkirche überzutreten; meine Frau wollte ihr Schicksal nicht von dem meinen trennen, und so gab ich, fest gegen alle Versuche meiner Freunde, mich zurückzuhalten, meine Stellung auf. Zu meiner Taufe traf ein Apostel der Mormonenkirche von London ein. Dieser Act wurde, natürlich heimlich, Abends spät, am Ufer der Elbe, oberhalb der Stadt vollzogen. Als ich aus dem Wasser kam und meine Kleider angethan hatte, nahmen mich beide Glaubensgenossen unter den Arm und wir gingen nach der nächsten Station der böhmischen Bahn.“

Herr M. versicherte uns, daß auf diesem Wege auch seine mangelhafte Kenntniß des Englischen verschwunden sei, und er jedes Wort, das die Beiden zu ihm sprachen, verstanden habe, bis der Pfiff der Locomotive plötzlich das Gespräch störte und unterbrach.

Bald darauf zog Herr M. mit seiner Frau, die auch Mormonin wurde, nach der Salzseestadt. Er hat übrigens von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_795.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)