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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


geboten war. Unbewußt empfand sie, daß ein ganz natürliches Leben Allem die Wage hält. Der warme Odem glücklicher Familienverhältnisse umfing das junge Mädchen unendlich wohlthuend, und dieses Gefühl verließ sie nur dann, wenn Beziehungen von außen, aus einem ziemlich ausgedehnten Umgangskreise, an sie herantraten. Hier stellte sich Thea’s an feinste Lebensformen gewöhnter Geschmack meist zur Wehre, und sie isolirte sich bis zur Rücksichtslosigkeit, was nicht ohne Verstimmungen ablief. Während dies im Laufe der Zeit manchen Gegensatz mit den Eltern hervorrief – denn auch Rostan forderte von seiner Tochter, daß sie sich den Formen jener Welt fügen sollte, mit welcher sein Haus im Zusammenhange war – wurde Dora umsomehr von ihren Geschwistern vergöttert, die sie stets bereit fanden, sich ihnen zu widmen. Zwischen Robert und ihr entstand das innigste Verhältniß. Der ernste junge Mensch fand in der Schwester sein Ideal; sie allein theilte das Vertrauen über all sein innerstes Denken und Leben, das er bisher nur Einem auf Erden gegönnt. Von diesem Einen sprach er Dora gern, mit aller Inbrunst jugendlicher Begeisterung. Der älteste Sohn einer mit Rostans befreundeten Familie, die vor Kurzem durch Versetzung von Danzig entfernt worden, hatte sich des früher im Lernen zurückgebliebenen Knaben angenommen und ihm durch seine Nachhülfe das Aufsteigen in die höheren Classen früher erreichbar gemacht. Er besaß an dem jüngeren Freunde nun einen tief ergebenen Anhänger.

Nur Dora allein durfte die Briefe lesen, welche Robert von Zeit zu Zeit aus Berlin erhielt, wo Ernst Wernick seine Universitätsstudien beendete. Ihr aber brachte er die ihm heiligen Blätter um so lieber, als das lebhafte Interesse, womit Dora sie aufnahm, selbst seinem Enthusiasmus wohlthat. Was sie jahrelang umgeben, was sie jetzt oft entbehrte, der Ausdruck geistig concentrirten Lebens und Denkens, trat dem jungen Mädchen aus diesen Briefen entgegen, vertraut und doch völlig neu. Was ihr früher in glänzender Dialektik, im Streit aufeinander prallender Meinungen scharf und doch für ihren jungen Geist nicht völlig erfaßbar aufgegangen, trat ihr hier in schlichter Klarheit entgegen. So oft sie eines dieser Blätter aus der Hand legte, blieb ein befruchtender Gedanke bei ihr zurück, der gleichsam ein Licht über die Dinge ausströmte. Deshalb theilte Dora auch ihres Bruders Freude, als sein Freund im Laufe des Sommers schrieb, daß er einige Zeit in Danzig verleben würde, wohin ihn Geschäfte riefen. Ein kleines, seinem Vater zugehöriges Grundstück sollte verkauft werden, und da Jener nicht abkömmlich, wurde dem Sohne, welcher eben jetzt seine Studienjahre ganz vollendet, diese Angelegenheit zur Erledigung übertragen. Die Einladung Rostan’s, während seiner Anwesenheit ihr Gast zu sein, war gern angenommen worden, und Groß und Klein freute sich auf den seit Jahren schon dem Hause vertrauten Freund.

Um die gleiche Zeit etwa trafen, nachdem in der anfangs eifrig unterhaltenen Correspondenz des Grafen Hugo mit seiner Pflegetochter[WS 1] seinerseits eine ziemliche Pause eingetreten war, Briefe ein, worin er Dora und ihren Eltern seine Verlobung mit einer vornehmen Wienerin mittheilte. Er lud Dora nicht zu seiner Hochzeit ein, welche nahe bevorstand, schrieb ihr jedoch, daß er nach Rückkehr von der beabsichtigten Hochzeitsreise sie mit seiner Frau entweder abzuholen gedenke, oder, falls sich dies nicht sollte einrichten lassen, jedenfalls darauf rechne, sie wieder bei sich zu sehen, sobald sich entschieden, wo das Ehepaar sich zunächst fixiren würde. Der Ton dieses Briefes war nicht so unbefangen als jener, der an Rostans gerichtet war und mehr Aeußerliches verhandelte. Seine Braut sei reich, schrieb er, und nachdem er ihr Mittheilung gemacht, wären Beide übereingekommen, daß er in gleichem Sinne, wie früher seine Frau, über das Thea ursprünglich zugedachte Vermögen verfügen würde, da nun von nöthiger Vorsorge für etwaige weibliche Nachkommen abzusehen möglich wäre. Diese Verfügung zu Thea’s Gunsten schon zu seinen Lebzeiten in Kraft treten zu lassen, behalte er sich vor, wenn sie selbst sich einen Lebensgefährten gewählt.

War Thea über den sichtlich gezwungenen Ton betroffen, der sie aus den an sie gerichteten Worten kühl anwehte, so wurden dies ihre Eltern noch mehr durch die ihnen gemachte Mittheilung. Daß der Graf noch jetzt darauf bedacht war, sein Pflegekind in Abhängigkeit von sich zu erhalten, erschien bei der neuesten Gestaltung seiner Verhältnisse ganz unmotivirt und stimmte nicht zu dem cavalieren Bilde, welches Rostans von ihm festhielten.

Wurden diesen Eindrücken auch zwischen Eltern und Kind keine Worte geliehen, so wuchs aus denselben ein doppelt warmes Aneinanderschließen empor. Der Entschluß, seine Dora nicht zum zweiten Male aus dem Hause, von dem Herzen des Vaters fortzugeben, schlug in Rostan immer festere Wurzeln. Er sah keinen Grund mehr, sein Theuerstes einem Fremden überlassen zu müssen. Bald sollte dieser Gedanke des Festwachsens in der Heimath im Herzen seines Kindes ein stärkeres Echo finden, als er mit all seiner Liebe darin zu wecken vermocht hätte.




6.

Es giebt ein altes schottisches Lied von einfach süßer Melodie, dessen Refrain Jedem, der ihn vernimmt, Vergangenheit aufweckt, gehörte sie auch längst zu den Todten. „Nimmer vergißt das Herz den Traum der ersten Liebe.“ Bei seinem Klang steigt die Jugend wieder auf, reizender Schwermuth, köstlicher Wonnen voll; vor dem zarten Glanz der Erinnerung erblaßt jedes Bild der Leidenschaft, deren glühender Pinselstrich die lichten Farbentöne übermalt und verdrängt hat – unverwelklich blüht der Frühlingskranz, ein Duft, ein Accord, der Traum der ersten Liebe.

Das Paar, welches an einem sonnigen Augusttage zu der Felswand von Adlershorst aufstieg, träumte ihn auch. Den Anderen, deren Gesellschaft sie zugehörten, weit voran, unwillkürlich in gleichem Tempo schreitend, schien dort, wo sie wandelten, das Laub der Büsche grüner zu werden, das Sonnenlicht feuriger durch die Stämme des Waldpfades zu blitzen. Sie waren Beide so jung, so schön. Auf ihren leuchtenden, einander zugewandten Gesichtern lag göttliches Genügen.

„Hier,“ rief Dora lebhaft, indem sie mit ihrem Begleiter aus den Bäumen hervor auf die freie Höhe trat und einer dicht am steilabfallenden Grat der Klippe stehenden Bank zueilte, „hier ist mein Lieblingsplatz.“

„Und der meine,“ sagte der junge Mann leise, indem er sich neben ihr niederließ.

Dann verstummten Beide. Das Meer lag in überwältigender Großartigkeit vor ihnen ausgebreitet – so weit, als könnte der Sinn es nicht erfassen, so nahe, als sei es ein Theil ihrer selbst. Das dichte Laub der Büsche, welche die Klippe niederwärts bestanden, verbarg Landschaft und Ufer; nur die grünen Blätter zitterten als letzter, leiser Gruß der Erde zwischen den beiden jungen Gestalten und den unendlichen Wassern, die an den Himmel grenzten, gleich ihren Gedanken. Verhallt jeder Laut, überwältigt selbst das eigene Leben und Lieben. Nachdem sie einander mit einem einzigen langen Blick angeschaut, hing ihr Auge wie gebannt an der ruhigen Majestät des Meeres. Die langsam sinkende Sonne warf goldigen Hauch darüber hin und wob lichte Glorie um ein Segelschiff, das sich schwanenruhig am Horizonte wiegte.

Ernst Wernick’s Auge hing so gespannt an dem schimmernden Segel, das unbeweglich zu ruhen schien, als vernähme er ein Orakel. Sobald es nun weiterzugleiten begann, wandte er den Kopf und sah Dora an. Auch ihr Blick folgte dem ziehenden Fahrzeug, als wüßte sie des Freundes Gedanken.

Seine Hand erfaßte die ihre: „Noch badet sich’s im Lichte,“ sagte er halblaut, „dann schwindet es hin. So muß auch ich bald aus Licht und Glanz von dannen – wird Ihr Gedanke mir folgen, wie dem scheidenden Segel? Dora, sagen Sie – können Sie mich lieben?“

Dora sprach kein Wort. Sie nickte nur still, zog die Hand, welche ihre Rechte umschloß, empor und legte ihre Wange darauf. In der Bewegung lag so volle Hingebung, daß Ernst’s zögerndes Hoffen urplötzlich zum siegreichen Glück aufglühte. Sein Arm umfing die reizende Gestalt; sein Mund flammte auf ihrem Munde. „Meine Dora – meine Braut!“

Nur Himmel und Meer waren Zeugen des Bundes. Den jungen Lippen, welche sich Treue gelobten, war bis zu dieser Stunde noch nie ein Liebeswort entglitten; die Augen, welche ineinander tauchten, gaben und empfingen ihren Strahl aus ungekannten Sphären. Alle Himmel thaten sich auf.

Nahe Stimmen aus dem Walde weckten die Liebenden aus dem

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Pflegetocher
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 772. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_772.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)