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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

noch immer schwankend und wankend dahertaumelnde lange Gestalt zu begrüßen, die von einigen für einen Professor aus Berlin, von Anderen für einen Schauspieler aus Wien gehalten wird.

Ist dieses Fegefeuer der Ankunft überstanden, so sind wir damit zeitweilig eingebürgert unter der Badegesellschaft, und da unsere Siebensachen noch lange nicht, vielleicht erst mit einbrechender Dunkelheit, vom Bord an’s Land geschafft werden, so haben wir die herrlichste Muße, zunächst ein Stübchen zu miethen – für zwei bis drei Thaler die Woche – und alsdann im Restaurant zum „Fremden-Willkomm“ den opferwilligen Magen für die überstandenen Leiden der Seereise durch ein gutes Diner zu entschädigen. Nach dem Mahle credenzt uns „Doris“ im Strandpavillon eine Tasse schwarzen Mocca, und zeitiger als sonst suchen wir heute das Lager auf, um – von der Seekrankheit zu träumen.

„Was für Wetter heute, was für Wind, wann ist Hochwasser?“ das sind folgenden Morgens die ersten Fragen. Gebadet wird gegenüber der Insel, auf der Sanddüne, die bei gutem Weiter mit Segeln in zehn bis fünfzehn Minuten, bei widrigem Winde auf Umwegen, lavirend oder rudernd, in einer halben oder dreiviertel Stunde zu erreichen ist. Die Ankunft daselbst hat unser Zeichner recht hübsch auf einem Bilde veranschaulicht, welches von der Insel selbst freilich nur zur Rechten die äußerste Südspitze erkennen läßt.

In’s Seebad geht man nie mit nüchternem Magen, sondern etwa eine Stunde, oder anderthalb, nach eingenommenem Morgenkaffee. Zwischen neun und elf Uhr ist der größte Andrang, und es gehört oftmals die größte Geduld dazu, das Freiwerden eines noch besetzten und schon wieder auf’s Neue belegten Badekarrens zu erwarten.

Nach dem Bade Strandpromenade oder, lang hingestreckt im warmen Dünensande, ein Luft- und Sonnenbad, wie es schöner und molliger sich nicht denken läßt, und zum Beschluß des Vormittages im Pavillon der Düne ein Gabelfrühstück mit Porter, Ale, oder sonstiger Anfeuchtung auch des inneren Menschen. Bis zur Mittagstafel um drei Uhr fällt dann auch für ein Schläfchen noch Zeit genug ab, wenn etwa bei starkem Wellenschlage die kräftige Wirkung des Bades sich einschläfernd äußern sollte.

Nachdem die Curpflichten den Vormittag absorbirt haben, gehört der Nachmittag und der Abend der Geselligkeit, der Erholung und dem Vergnügen. Die unscheinbaren Morgen-Negligés sind den mannigfaltigsten Toiletten gewichen, und der Anblick einer Table d’Hôte von etwa fünfhundert bis sechshundert Gedecken, an fünf langen im großen Parterresaale des Conversationshauses gedeckten Tafeln, ist an sich schon ein Genuß, ganz abgesehen von der trefflichen Bewirthung daselbst. – Man sitzt volle zwei Stunden zu Tische. Die Zeit hat man ja dazu. Die erste Flasche „Cabarus“ – aller Rothwein, der auf Helgoland verzapft wird, trägt diesen Phantasienamen! – ist manchmal so trinkbar, daß die Sitzung durch eine zweite Flasche verlängert wird; – nur dann nicht, wenn gegen fünf Uhr der erste der drei Signalschüsse ertönt, durch welche die an der Südostseite des Oberlandes aufgepflanzte Batterie uns das einzige Ereigniß des Tages, das Herannahen des Hamburger Dampfers, meldet, wo wir ja mit dabei sein müssen.

Wenn man dann spät Abends auf dem Oberlande, nahe der Kirche, Papa Janssen’s hübschen grünen Garten betritt und die zahlreichen Gäste, um den liebenswürdigen Münchhausen der Insel versammelt, an delicatem neuem Hering mit Pellkartoffeln sich laben und Kulmbacher Bier dazu trinken sieht, so vergißt man einen Augenblick ganz, daß man sich nicht auf dem Festlande befindet, und erst der insulare Bierpreis von sechs Schillingen oder vier und einem halben Groschen für ein sehr kleines Seidel gemahnt uns an die Wirklichkeit, die trotz alledem keine rauhe, sondern eine höchst gemüthliche ist.

Mein Enthusiast auf der Fahrt von Hamburg hierher hatte Recht gehabt: es hatte sich hier Vieles verändert, verbessert und verschönert seit den zwölf Jahren, wo ich die Insel nicht gesehen, und alle diese Veränderungen waren meist erst in neuester Zeit, unter der Aegide des jetzigen Gouverneurs, vor sich gegangen. Wie oft auch das originelle Eiland mit seinen Bewohnern in Monographien und Journalartikeln geschildert worden ist, und wie wenig Neues ich dem Leser bieten würde, wenn ich eine Beschreibung der Insel nach der üblichen Schablone unternehmen wollte: Eines läßt sich nicht todtschweigen, wenn man heutzutage von Helgoland spricht, und das ist die neue Aera dieser Insel, die mit der Person des jetzigen Gouverneurs innig zusammenhängt.

Sie datirt aus dem Jahre 1868. Früher eine dänische Besitzung, kam bekanntlich Helgoland im Jahre 1814 an England. In der dänischen Zeit war die Insel von einem Landvogt und sechs Rathmännern regiert gewesen, und eine kleine Anzahl von Soldaten hatte die executive Macht gebildet. Die Gefängnisse von Schleswig hatten zur Aufnahme der seltenen Verurtheilten gedient. Mit der englischen Besitzergreifung änderte sich Dieses. An die Stelle des dänischen Landvogtes ward einer der sechs Rathmänner als Bürgermeister beeidigt, der die ganze innere Regierung der Insel führte und dem ein englischer Officier als Statthalter oder Lieutenant-Gouverneur und als Appellationsinstanz vorgesetzt war.

Die alte friesische Biederkeit der Einwohner von Helgoland ließ dieses Verhältniß eine Zeitlang bestehen; gar bald aber fingen die Rathmänner an, despotisch aufzutreten; das Volk dagegen verweigerte ihnen den Gehorsam. Die ärgsten Schreier unter den Einwohnern wurden in die sogenannte Vorsteherschaft der Insel gewählt, die Schulden des Landes vergrößerten sich mit jedem Jahre; die Pachtgelder des Roulettespieles bildeten – traurig, aber wahr! – das alleinige sichere Einkommen der Insel; die Ausübung des Strandrechtes, früher, unter dänischer Herrschaft, wenigstens noch mit einiger Ehrenhaftigkeit gehandhabt, bildete einen Schandfleck der Insel – es war eben die reine Strandräuberei.

Das Jahr 1864 schaffte einen Wandel in diese unhaltbaren Verhältnisse: England verlieh der kleinen Insel am 7. Januar 1864 die freieste Verfassung; die Bewohner durften sich ihre eigenen zwölf Vertreter wählen, je auf ein Jahr; die Krone ihrerseits ernannte zwölf, anstatt der bisherigen sechs Rathmänner, und diese Letzteren im Vereine mit jenen Ersteren, zusammen also vierundzwanzig, bildeten das „Gemeindehaus“, welches das alleinige Recht hatte, Steuern auszuschreiben und über die Verwendung der öffentlichen Gelder Beschlüsse zu fassen. Dagegen verlangte England von der Insel, außer einer Revision der Strandrechtsordnung, der Aufhebung des Hazardspieles und der allmählichen Deckung des Deficits mittelst genügender Steuern, gar nichts, weder Geld, noch Militär, noch Marinedienste, im Gegentheil: England gab und giebt noch heute zwölfhundert Pfund Sterling Zuschuß zur Deckung der öffentlichen Ausgaben.

So lange sie blos auf dem Papier stand, ließ man sich diese neue Verfassung gefallen, als sie aber thatsächlich in’s Leben treten sollte, da ging Empörung durch die Bevölkerung der Insel; ein sogenanntes Bürgercomité petitionirte nach England um schleunige Wiederherstellung der „alten Rechte und Privilegien“, d. h. auf deutsch: „um Beibehaltung des Strandrechtes und der Spieltische im Conversationshause“.

Die Zustände auf der Insel waren schlimmer denn je, so schlimm, daß endlich der englische Minister für die Colonien es für nöthig fand, aus eigener Anschauung sich ein Bild von der Sachlage zu verschaffen. Dies hatte denn zur Folge, daß im Jahre 1868 die Volksvertretung und das bisherige System der Selbstregierung aufgehoben und die ganze executive Gewalt in die Hände des jetzigen Gouverneurs, Seiner Excellenz des Herrn Oberstlieutenant Fitz-Maxe[WS 1], gelegt ward, welcher seinerseits nur allein dem englischen Ministerium des Auswärtigen verantwortlich ist.

Sehr angenehm mag seine Stellung anfangs nicht gewesen sein. Sie ist es in mancher Hinsicht vielleicht heute noch nicht. Seine Verantwortlichkeit ist eine große, und seine pecuniären Einkünfte sind kaum der Rede werth. Gleichwohl hat der Gouverneur durch Alles Das, was er geschaffen, sich die Anerkennung, wenn nicht seiner Untertanen, doch der zahlreichen Badegäste und der ganzen gebildeten Welt in hohem Grade zu gewinnen gewußt, und wir bewundern hier, wie ein hochgebildeter, thatkräftiger, seine Stellung richtig erfassender Mann durch eine verständnißvolle Initiative den öden Felsen, den ihm das Geschick als Wohnsitz und als Wirkungskreis zugewiesen hat, sich selber und der Mitwelt zu verschönern vermochte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Fitz-Morse (nach Berichtigung)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_736.JPG&oldid=- (Version vom 11.5.2023)