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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Da erschien Luther, der große Vorkämpfer in jener halben Revolution, welche die Geschichte Reformation nennt. Halb war die Umwälzung und deshalb doppelt schwer durchzuführen. Denn, während nur die Geistlichkeit von Luther angegriffen wurde, blieb ihr Genosse, die Aristokratie, nicht unthätig; sie warf sich zu ihrem Secundanten auf und fing manchen Hieb auf, der sicher blutig gesessen hätte. Hätte doch unser großer Reformator die weisen, frommen Fürsten aus dem Spiele gelassen! Dein Kampf, Hutten, wäre auf günstigerem Terrain gestritten; hätte er sich gar mit dir verbündet, du hättest durch deinen Sieg den seinigen erst zu einem rechten und ganzen gemacht.


Hohen-Urach in Württemberg.
Nach der Natur aufgenommen von K. St.


So aber bist du, frommer Hutten, gefallen, ohne dein Lebensziel erreicht zu haben. Doch tröste dich, schlimmer als dir ging es deinem Gesinnungsgenossen, dem Dichter von Hohen-Urach, dem großen Humanisten Nicodemus Frischlin.

Frischlin wurde am 22. September 1547 zu Balingen geboren, wo sein Vater Pfarrer war. Er muß sich sehr schnell entwickelt haben, denn schon 1568 finden wir ihn in Tübingen auf dem Lehrstuhle der freien Künste als ordentlichen Professor. Die frühe Reife war bei ihm, wie bei so vielen großen Männern, ich erinnere nur an Goethe, keine ungesunde, durch künstliche Gewächshauszucht hervorgebrachte; das verbürgt der große Kreis von Zuhörern, der sich bald um den jungen genialen Frischlin schaarte. Burschikos und frei im geselligen Leben war er als Lehrer voll Begeisterung für das Alterthum, seine Helden und Weisen, war er voll bissigen Witzes, wenn er auf die flache Gelehrsamkeit gewisser Tübinger Herren zu sprechen kam, bekämpfte er mit spitzen Waffen des Spottes den anmaßenden, ungebildeten Adel jener Tage.

Es kann uns nicht Wunder nehmen, daß sich Nicodemus Frischlin auf diese Weise viele Feinde erwarb; die hat Derjenige, welcher sich mit Narren jeder Art herumschlägt, immer in großer Anzahl. In unseren Tagen können sie dem Klugen nur nicht in dem Maße schaden wie damals, wo sie überall an der Spitze standen und über Leben und Schicksal vieler Leute bestimmten. Als Beispiel von der Erbitterung und zugleich der Rohheit der Feinde Frischlin’s mag Folgendes dienen. Einst veranstaltete der Vogt Burkard von Anwiel ein großes Gastmahl, wozu viele Edle der Umgegend, der Vogt und die Honoratioren Tübingens und auch unser Dichter eingeladen wurden. Der große Saal im Rathhause zu Tübingen erscholl bald von Becherklang und fröhlichen Reden; letztere verwandelten sich in rohe Ausfälle und Zänkereien, als die Köpfe warm geworden, und Frischlin hielt es für das Beste, heimzugehen. Da ruft ihn der Gastgeber heran und nimmt ihm den schon umgelegten Mantel wieder ab; Frischlin mußte, wollte er sich nicht unnützer Weise einen neuen Feind erwerben, bleiben. So setzt er sich mit an die Tafelrunde der Ritter, die entschlossen schienen, bis zum Morgengrauen ihren Platz zu behaupten. Ihm zur Seite hat der Vogt von Tübingen, Herter von Herteneck, Platz genommen. Frischlin trinkt ihm zu, und der edle Herr antwortet: „’nen Dreck! in vino veritas.

Auch Frischlin spricht jetzt ganz frei von der Leber weg: „Ich nehme Euer Maul und ess’ den Dreck und noch mehr.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 679. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_679.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)