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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Wiederholt begegnen wir zu dieser Zeit in des Dichters vertraulichen Aeußerungen seiner Klage über die „Hofnoth“ und daß er „des Treibens müde sei“. Natürlich! Der Genius in ihm fühlte sich unbefriedigt. Das Getöse und Gestaube einer ins Leben übertragenen Genialität, wie es die ersten weimarischen Jahre Goethe’s erfüllte, konnte der Muse nicht eben hold und günstig sein. Allerdings beschäftigte sich der Dichter in den stillen Tagen und Nächten, welche er dem Tumult der „Hofnoth“ abzugewinnen vermochte, mit seinen größeren Entwürfen: der „Egmont“ wurde gefördert, die „Iphigenie“ vollendet (in Prosa), der „Tasso“ begonnen, der „Wilhelm Meister“ ins Auge gefaßt, der „Faust“ dann und wann um eine Scene weitergerückt. Aber alles dieses ist erst später ausgereift und offenbar worden, während es für jetzt ganz den Anschein gewann, als ob Goethe nur noch zur Hervorbringung von allerhand poetischem Zeitvertreib Muße und Stimmung finden könnte. Zu solchem höfisch-poetischen Zeitvertreib zählen wir die kleinen Dramen und Singspiele „Die Geschwister“ – „Der Triumph der Empfindsamkeit“ (ursprünglich „Die geflickte Braut“) – „Lila“ – „Jery und Bätely“ – „Die Fischerin“ – „Scherz, List und Rache“. Die Goethenarren haben sich an diesen Sachen und Sächelchen pflichtschuldigst erbaut. Der unbefangene Urtheiler dagegen wird darin und daran weiter nichts finden wollen und können, als niedliche, recht niedliche Kleinigkeiten, welche ein genialer Mensch, der im Nothfall die Poesie zu „kommandiren“ verstand[1], niederschrieb, um zu den Kosten höfischer Feste seinen Antheil beizusteuern. So eine goethe’sche Beisteuer waren dann auch „Die Vögel“, eine mit aristophanischem Pfeffer gewürzte Posse, die urtheilslose Lesewuth des Publikums satirisirend.

Die erwähnten dramatischen Kurz- und Kleinwaaren unseres Dichters dienten zunächst dem theatralischen Bedarfe des Hofkreises. War man des wilden Treibens in Feld und Wald überdrüssig, so griff man zum Komödienspiel, welches von der Herzogin Amalia hochbegünstigt war. Die weimarer Theaterzustände waren aber damals noch sehr hinterwäldlerische. Eine stehende Bühne gab es gar nicht in dem „Nest“ von Ilmresidenz. Aber komödirt mußte doch werden. Also wurde zur Geniezeit bei Hof ein Liebhabertheater aufgeschlagen, aus dessen Brettern die Fürstlichkeiten und die Hofleute Rollen agirten. Der Wolfgang war Theaterdichter, Theaterdirector und Schauspieler zugleich, Primadonna die Korona Schröter. Zunächst diente diese improvisirte Schaubühne als handliches Mittel muthwilligster Neckerei und einer keineswegs zartfühligen Schabernackssucht. Der gute Wieland wußte davon zu erzählen, noch Anno 1779, wo in seiner Gegenwart seine allerdings parodirenswerthe „Alkeste“ mittels Aufführung der „Geflickten Braute“ fürchterlich parodirt wurde. Der Schelm von Theaterdirector ließ die süße Arie: „Weine nicht, du meines Lebens Abgott!“ schnurrig mit dem Posthorn begleiten und in dem Singsang an den Mond:

„Du gedrechselte Laterne
Ueberleuchtest alle Sterne
Und an deiner kühlen Schnuppe
Trägst du der Sonne mildesten Glanz“ –

wurde das Wort „Schnuppe“ als unendlicher Triller gesungen. Diesmal wurde Wieland „wüthig“ und lief im Zorne davon. Sein Brief an Merk, worin er sich über die ihm widerfahrene „Polissonnerie“ ausläßt, lautet sehr anders als ein drei Jahre zuvor an denselben Freund gerichteter, worin der gute Papa gesagt hatte: „Goethe lebt und regiert und wüthet und gibt Regenwetter und Sonnenschein und macht uns alle glücklich, er mache, was er will …“ Im April von 1779 kam die „Iphigenie“ zur Aufführung und man kann wohl mit Fug sagen, daß mit der Erscheinung dieser edlen Dichtung die kraftgenialisch wolkige Atmosphäre Weimars sich zu reinigen und zu klären begonnen habe. Goethe hatte die Rolle des Orest, Korona die der Iphigenie. Ein Augenzeuge einer der Aufführungen des Stückes, der nachmals berühmt gewordene Medizinmann Hufeland, hat darüber dieses Wort gesprochen: „Nie werde ich den Eindruck vergessen, den Goethe als Orestes im griechischen Gewande machte. Noch nie erblickte man eine solche Vereinigung geistiger und körperlicher Vollkommenheit in einem Manne wie damals in ihm. Man glaubte einen Apollon zu sehen.“



Blätter und Blüthen.

Noch einmal der Vampyr-Schrecken. Bezugnehmend auf den Artikel „der Vampyr-Schrecken im neunzehnten Jahrhundert“ von Carus Sterne in der Gartenlaube, sei es mir gestattet, Folgendes, das ich selber erlebt und gesehen habe, als Ergänzung zu jenem Aufsatze hier zu veröffentlichen. Carus Sterne sagt, daß dieser Glaube sich nur bis Preußen, worunter er doch jedenfalls nur die Provinz Preußen verstanden wissen will, verbreitet habe; dem ist aber nicht so, man fand diesen Glauben noch vor ungefähr vierzig Jahren auch allgemein in der Provinz Pommern und zwar bis in die Gegend der Stadt Stargard, wie Folgendes, das ich, wie bemerkt, selbst erlebt und gesehen habe, beweist.

Oftmals hatte ich von älteren und auch wohl jüngeren Leuten meines Heimathdorfes, Schöneberg bei Stargard in Pommern, erzählen hören, wie häufig es vorkomme, daß ein verstorbenes Familienglied alle oder doch mehrere Mitglieder der Familie nachfresse. Dies war der allgemein gebräuchliche Ausdruck für die Macht des Verstorbenen, vermöge welcher er seinen vernichtenden Einfluß ausübe; wolle man aber die Kraft eines solchen Nachfressers paralysiren, so müsse des Nachts sein Grab geöffnet, ihm das Haupt mit einem Grabscheit abgestochen und dieses dann zu seinen Füßen gelegt werden. Im Wesentlichen stimmte der Aberglaube in Pommern mit dem überein, was Carus Sterne über ihn in anderen Gegenden sagt. Recht lebhaft hörte ich aber diesen Aberglauben die Landbevölkerung meiner Heimath beschäftigen, als in dem benachbarten Dorfe Brüsewitz ein kräftiger Bauergutsbesitzer starb, dem in kurzen Intervallen zwei robuste erwachsene Söhne folgten. Wahrscheinlich grassirte eine Seuche, aber allgemein sprach man, der Vater fresse die ganze Familie nach, wenn man nicht mit dem Verstorbenen die obengenannte Procedur vornehme.

Mein Onkel, der Lehrer des Dorfes war, äußerte bei Gelegenheit eines Besuches zu meinem Vater, er fürchte, daß er eines schönen Morgens auf dem Kirchhof, der übrigens dicht vor seinem Hause lag, die Spuren vorfinden werde, daß das Grab geöffnet sei, und er fürchte das um so mehr, wenn die jetzt noch schwer krank darniederliegende Tochter auch sterben sollte. Er wollte aber, wenn der Fall eintrete, meinen Vater sofort benachrichtigen, damit er sehe, wie groß die Macht des Aberglaubens noch sei. Nach wenigen Tagen erfuhren wir, daß die Tochter wirklich gestorben sei, und drei Tage nach deren Begräbniß erschien denn auch in aller Frühe ein Bote, der meinen Vater einlud, sofort nach Brüsewitz zum Bruder zu kommen. Ich durfte den Vater begleiten. Wir fanden den Onkel am frisch zugeworfenen Grabe des etwa vor sechs Wochen verstorbenen Bauergutsbesitzers, und die umherliegenden Erdhäufchen, die sich in der Nacht nicht hatten gut beseitigen lassen, dann der in aller Eile hergerichtete Grabhügel ließ uns keinen Zweifel, was da vorgegangen war. Die Sache wurde von meinem Onkel dem Pastor angezeigt (Brüsewitz war damals noch Filial des Dorfes Pansin), derselbe begnügte sich damit, am nächsten Sonntage der Gemeinde von der Kanzel herab über den crassen Aberglauben, der noch in ihr herrsche, Vorstellungen zu machen, unterließ aber die Anzeige an das Landrathsamt, so daß keine weitere Untersuchung erfolgte. Als aber nun wirklich kein Mitglied aus der beregten Familie mehr starb, war man allgemein der Ansicht, daß die vorgenommene Procedur die richtige und helfende gewesen sei

Dr. Petermann.



Zur Roderich Benedix-Dotation.

Unsere Leser und alle Freunde und Verehrer der geistigen Schöpfungen unseres Roderich Benedix wissen nunmehr längst, daß die Sorgen des Lebens für immer von ihm genommen sind. Gestern, am Montage, den 29. September, haben wir ihn im alten Friedhof von Leipzig begraben. Wie an jedem Dichtergrabe ist auch an dem seinen der Gedanke ausgesprochen worden, daß der Dichter nicht ganz sterben könne, daß sein Bestes fortlebe in und mit seinem Volke; – und eben darum kann auch unsere Dankbarkeit nicht mit seinem Tode enden, sondern muß über sein Grab hinausdauern und sich bewähren.

Im Vertrauen darauf, daß dieser Gedanke auch alle unsere Leser erfülle, erlauben wir uns noch einmal die Bitte an alle Freunde und Verehrer des heimgegangenen Dichters, dieser Sammlung für die R. Benedix-Dotation auch ferner treu zu bleiben und ihr die Theilnahme in immer weiteren Kreisen erwirken zu helfen. Mögen sie Alle denken: der alte Roderich Benedix nehme ihre Ehrengabe als ein Vermächtnis an für seine Wittwe und sein einzig noch unversorgtes und der Pflege sehr bedürftiges Kind. Dieser Nationalerbschaft für unseres Dichters einsam trauernde Lieben gelten fortan unsere Sammlungen. Bis heute ergaben dieselben an neuen Sammlungen:

Franz Jauner, Director des Carltheaters in Wien 100 fl.; M. W. in Hof-Gnadenthal 5 Thlr.; E. F. in Berlin 5 Thlr.; Helene u. Franziska K. in Potsdam 3 Thlr.; A. D. in Reichenhall 3 Thlr. 10 Ngr.; Lehrer Neumann in Sand 15 Ngr.; G. H. in Hamburg 2 Thlr.; T. Fick ans R. 2 Thlr.; Höhme in Zwönitz 3 Thlr.; in der Restauration Weber 12½ Ngr.; L. in Leipzig Nr. 65 50 Thlr.; T. in Würzburg 6 Thlr.; W. F. in Loschwitz 2 Thlr.; eine Gartenfreundin 1 Thlr.; Stadtrath Dr. Günther in Leipzig 25 Thlr.; zweite Gabe von der Redaction der Gartenlaube 50 Thlr.

Die Redaction.
  1. Und wollt ihr euch Poeten nennen,
    So kommandirt die Poesie!

                                                                Goethe.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 674. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_674.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)