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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Haben Sie, Frank H. Walworth, etwas hiergegen einzuwenden?“ fragte der Gerichtsschreiber den Gefangenen.

Walworth murmelte einige unverständliche Worte: seine Vertheidiger rührten sich nicht. Todtenstille lag auf dem weiten Saale, als nach einer kurzen Pause der Gerichtsschreiber ausrief: „Walworth, erheben Sie sich!“

Ohne auch nur den gewöhnlichsten Anstand, den der Ort und die Gelegenheit geboten, zu beobachten, erhob sich der elende Bursche langsam und nachlässig, steckte die Hände in seine Rocktaschen und blickte den Richter mit der frechen Miene eines ungezogenen, trotzigen Schulbuben an. Ja, es war deutlich zu bemerken, daß er kaum im Stande war, das Lachen zu unterdrücken und mehrere Male gezwungen war, sich auf die Lippen zu beißen. Eine solche teuflische Ruchlosigkeit mag als ein psychologisches Räthsel erscheinen, die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger wahr. Wer freilich die heranwachsende Jugend New-Yorks sieht, begegnet diesem psychologischen Räthsel so oft, daß es kaum mehr als solches auffällt. Verachtung alles Guten, Edlen und Schönen, mit Füßentreten alles Anstandes und alles Rechtes ist nicht mehr Ausnahme, sondern Regel, und wir kennen mehr als Einen geldaristokratischen Sprossen, der dieselbe Frechheit zur Schau tragen würde, wenn über ihn ein ähnliches Urtheil gesprochen werden sollte, wie es jetzt Richter Davis über den Vatermörder aussprach.

„Walworth,“ begann der selbst tieferschütterte Richter, „ich habe in meinem ganzen Leben keine peinlichere Pflicht zu verrichten gehabt, als die mir jetzt obliegt. Nach einem Processe, in welchem Sie die Wohlthat eines Anwaltes hatten, der an Fähigkeit und Gelehrsamkeit nicht übertroffen wird, und einer Jury, die Sie im Wesentlichen selbst erkoren, sind Sie des Verbrechens des Mordes im zweiten Grade überführt worden. Die Strafe für dieses Verbrechen ist durch das Gesetz festgesetzt. Dem Gericht ist keine Wahl gelassen: Sie ist streng, aber, wie das Gericht in Ihrem Falle erachtet, nicht zu streng. Es trennt Sie von Ihren Freunden und von Ihrer Familie, und sendet Sie für Ihr Leben in’s Staatsgefängniß, das Sie wahrscheinlich nicht verlassen werden, außer vielleicht in künftiger Zeit durch die Gnade der Vollzugsgewalt. Die Beweise haben nach meinem Urtheile den gegen Sie gegebenen Wahrspruch vollkommen gerechtfertigt und ich habe schwere Zweifel, ob sie nicht den Wahrspruch ‚Mord im ersten Grade‘ gerechtfertigt hätten, denn ich kann nicht begreifen, welche Beweggründe Sie haben konnten, sich mit einer geladenen Pistole auszurüsten, nach New-York zu kommen, eine Zusammenkunft mit Ihrem Vater zu suchen und ihn fast unmittelbar darauf niederzuschießen, ohne daß ich annehme, daß Sie mit Ueberlegung beschlossen hatten, daß sein Leben durch Ihre Hand enden sollte. Die Pflicht, die ich zu üben habe, wird mir doppelt schmerzlich durch den Umstand, daß Sie einer in den Civil- und Militärannalen des Landes geehrten und ausgezeichneten Familie angehören. Ihr Großvater väterlicherseits war der oberste Richter dieses großen Staates und hinterließ einen reinen unbescholtenen Namen, während Ihr Großvater mütterlicherseits auf dem Schlachtfelde für das Vaterland fiel. Ihre arme Mutter hatte allerdings Ursache, ihre Beziehungen zu dem Vater zu bedauern, den Sie erschlugen; auch Sie hatten Ursache, nicht blos bekümmert, sondern beschämt und zornig zu sein über die lange Reihe von Beschimpfungen gegen sie und seine Familie; doch so schlecht er war, an Ihnen war es nicht, der Rächer dieses Unrechtes zu sein. Er hatte nichts gethan, um sein Leben selbst nach den Gesetzen des Landes zu verwirken, und am wenigsten hatte er etwas gethan, um sein Leben durch die Hand seines eigenen ältesten Sohnes zu verlieren. Wenn ich auf den Augenblick zurückblicke, wo Sie sich zu seinem Nachrichter machten und ihn in jenem Zimmer tödteten, wo Niemand außer Euch Beiden zugegen war, ist mir’s, als ob dieser Tod grauenhafter, als tausend Tode in anderer Form gewesen sein müsse. Von Ihnen zu einer Besprechung zu anscheinend friedlichen Zwecken eingeladen, um Familienzwiste zu schlichten – und fast unmittelbar der Todeswaffe in der Hand seines eigenen Sohnes gegenübergestellt – welche Gedanken müssen ihm in diesem Moment durch den Kopf gegangen sein, als er den bleiernen Todesboten von den Händen seines ältesten Knaben in seiner Brust empfing! Ich schaudere, wenn ich daran denke“ – bei diesen Worten verzog sich das Gesicht des Vatermörders zu einer höhnisch grinsenden Grimasse; der Richter, der es wohl bemerkte, unterbrach sich und rief, indem er einen durchbohrenden Blick auf den elenden Buben schleuderte: „der Gedanke an das Entsetzliche, das Sie vollbrachten, sollte Sie bis in’s Innerste erbeben lassen; ich schaudere, wenn ich daran denke, und fühle, daß Sie Ihr ganzes Leben einer Reue widmen sollten, wie sie Gott allein für eine so grauenhafte That annehmen kann. Der Spruch des Gerichts ist, daß Sie im Staatsgefängniß in Sing-Sing bei harter Arbeit für die volle Dauer Ihres Lebens eingesperrt werden.“

Nicht nur der Mörder, sondern ebenso die Mutter und sämmtliche Verwandten hörten den erschütternden Worten des Richters mit einer so empörenden Kaltblütigkeit zu, daß es selbst den gewiß nicht zu feinnervigen Zuhörern zu viel wurde. Anzeichen eines Ausbruchs des öffentlichen Unwillens gaben sich deutlich kund; der Richter beschleunigte die nöthigen Formalitäten, so sehr er konnte, und befahl dann schnell die Räumung des Saales und die Entfernung des Mörders und seiner Familie. Lachend nahm die verrottete Gesellschaft im Vorzimmer Abschied von einander; die Familie, um in Saratoga dem Begräbniß des Gemordeten beizuwohnen und dadurch ihrem ganzen ekelerregenden Gebahren die heuchlerische Krone aufzusetzen, der Sohn, um wieder nach den Tombs und von da weiter nach Sing-Sing in’s Zuchthaus abgeführt zu werden. Unterwegs äußerte sich der Verurtheilte gegen den Sheriff:

„Ich bin froh, daß ich die lange Strafpredigt nicht auszuhalten hatte, die ich von Seiten des Richters befürchtete. Ich weiß selbst gut genug, woran ich bin, und bedarf deshalb durchaus keiner Belehrung. Ich verlange weiter nichts, als einige Frist, um meine Angelegenheiten zu ordnen, und dann werde ich mich mit der größten Gemüthsruhe in mein Schicksal finden.“

Frank Walworth ist seitdem nach Sing-Sing abgeführt worden, wo ihm bis jetzt wenigstens nicht die geringste Vergünstigung vor andern Gefangenen zu Theil geworden ist. Die Gemüthsruhe, mit der er so sehr prahlte, scheint auch schon feiger Verzweiflung Platz gegeben zu haben, indem er, wie es wenigstens heißt, versuchte, sich selbst zu Tode zu hungern. Doch möchte auch hierzu dem erbärmlichen Wichte die Energie fehlen, denn die Aussicht ist doch zu verlockend, vielleicht schon nach wenigen Jahren den Pardon eines gefälligen Gouverneurs zu erbetteln oder zu erkaufen, und dann als Löwe des Tages und gefeierter Held der gesammten Noblesse New-Yorks, trotz Vatermord und Zuchthausjacke, in den Salons der fünften Avenue umherzustolziren.

Der vorstehende Fall hat, wie schon bemerkt, selbst in diesem von den schändlichsten Verbrechen strotzenden Lande außergewöhnliche Sensation erregt; das Gefühl des besseren Theils des Volkes hat sich empört gegen solche Ruchlosigkeit eines neunzehnjährigen Buben sowohl, als auch gegen eine so elende Handhabung der Gerechtigkeit, wie sie in dem Wahrspruch der Jury erscheint. Man spricht hier von einem psychologischen Räthsel. Und doch ist dasselbe nicht so gar schwer zu lösen. Es ist nicht die Absicht dieses Artikels, auf die Ursachen solcher entsetzlicher Erscheinungen ausführlicher einzugehen, nur einige Bemerkungen mögen schließlich dem Schreiber erlaubt sein.

Der Schlüssel solcher dunklen Thaten liegt hauptsächlich in der Weise, wie die amerikanische Jugend, namentlich diejenige von New-York, aufwächst, in der Erziehung oder richtiger Nicht-Erziehung derselben. In sehr vielen Familien, vorzüglich der sogenannten höheren Classen, das heißt derjenigen, welche mehr Geld als Andere haben und darum einen höheren Rang in der Gesellschaft beanspruchen, kann von vornherein von Kindererziehung keine Rede sein. Ist es einmal ausnahmsweise dem Kinde erlaubt worden, das Licht der Welt zu erblicken (denn Mord der Ungeborenen ist fast zur Regel geworden), dann beginnt trotz aller scheinbaren Sorge für dasselbe die lange Reihe von Vernachlässigungen und Versündigungen gegen dasselbe. Die Mutter ist viel zu träge oder zu vergnügungssüchtig, als daß sie sich die Last der Sorge für ihr Kind aufbürden könnte, und der Vater hat zu nichts Zeit, nur zum Geldmachen, er ist fast nie zu Hause. Amme, Gouvernante, Lehrer nehmen sich nach einander die Sorge für den Sprossen des edlen Hauses ab, während der Vater nach Geld und Courtisanen jagt und die Mutter vollauf mit Putzmacherinnen und galanten Freunden zu thun hat. Das Gefühl, Eltern zu haben, die es wahrhaft lieben, wird einem solchen Kinde nie in’s

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