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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Blätter und Blüthen.

Russische Bettler in Riga. (Mit Abbildung, S. 571) Als ich in Riga den engen, gewundenen Straßen und den schiefen Häusern, die trotz der angebahnten Russificirung durchaus den Charakter einer kleinen, urdeutschen Stadt tragen, meinen ersten Gruß dargebracht hatte, überschritt ich die einstigen Festungsgräben. Sie sind jetzt zu heiteren Parkanlagen umgewandelt, welche zur Petersburger Vorstadt führen. Wenn Riga äußerlich Kleinbürgerthum in der Altstadt, Schmutz und Verkommenheit in der Moskauer Vorstadt zur Schau stellt, so bietet es hier die prunkhaften palastartigen Neubauten der wohlhabenden Kaufmannswelt dar; denn was man auch klagt über das allmähliche Sinken des dortigen Handels, des einstigen Reichthums – die jetzigen Kaufherren sind immer noch die würdigen Enkel jener Bremer, welche den Handelsplatz gründeten und ihm zu einer gewissen Macht verhalfen. Hier gleicht Riga jeder andern vornehmen Stadt, und nur vereinzelt erblickt man die grauen zerlumpten Gestalten der niedrigen Russen und Letten, die sich mehr in den anderen Stadtvierteln aufhalten.

Ich verwerthete meine Empfehlungen, fand die glänzendste Gastfreundschaft, hatte einen Theil der Zeit in dem brillanten Wöhrmanns-Park bei „Ertal“ zugebracht und schlenderte nun, begleitet von einigen neuen Bekanntschaften, nach der Altstadt zurück. Es war in der Dämmerungsstunde. Wir näherten uns der Verbindungsbrücke der Parkanlagen, als plötzlich aus dem Dunkel eines der Gebüsche eine große, fast formlose Gestalt zu Boden fiel und ein vorübergehendes Paar, einen Russen mit seiner Dame, zurückschrecken machte. Gleichzeitig tauchten aus demselben Winkel noch andere patriarchalische Gestalten hervor, die, auf den Knieen rutschend und sich bekreuzend, in leisen unarticulirten Tönen sich an die Mildthätigkeit der Vorübergehenden wandten.

Schon in Dünaburg hatte ich das Elend in seiner widerwärtigstem Gestalt kennen gelernt, als ich beim Grauen des Morgens mich in der Nähe der Wartesäle herumtrieb und auf den Abgang des Rigaer Zuges wartete. Allerlei Volk stand gelangweilt umher. Ich durchstöberte die nächste Umgebung und trat in eine Art Hofraum, dessen grauer Fußboden ein eigenthümlich coupirtes Terrain zeigte. Beobachtend und zögernd näherte ich mich den Unebenheiten und, wunderbarer Weise, die Hügel bewegten sich, sie entwickelten Formen, ja, es waren lebende Wesen, es waren menschliche Körper, die, in graufriesenen Mänteln, zusammengekauert dasaßen und durcheinander lagen. Nur dem Nahenden streckten sie die knöchernen Arme entgegen, wie das umgestürzte Steinbild eines Wischnu. Selten habe ich einen so abstoßenden Anblick gehabt, wie diese Haufen von Verkommenheit, und ich möchte behaupten, daß ein Nest jener erdfahlen Schlangenart, die, eine in die andere verschlungen, in unheimliche Knäuel geballt, daliegen, einen gewissen Grad von Lieblichkeit entwickelte, verglichen mit diesem Menschenklumpen.

Rigas Armenpflege scheint im Allgemeinen gut organisirt zu sein, so daß kein eigentlich Nothleidender ohne besondere Hülfe bleibt; denn waren mir auch Lumpen und Dürftigkeit hinreichend begegnet, so waren dies doch die ersten privilegirten Bettler, welche ich hier vor mir hatte. Es war ein Bild, dessen Stimmung der auf Seite 571 befindliche Holzschnitt nur oberflächlich andeuten kann.

Ch.

Nachklänge der Alliteration in der deutschen Sprache. Bekanntlich waren bis gegen Ende des neunten Jahrhunderts die poetischen Erzeugnisse der alten Deutschen nicht in Reimen abgefaßt, sondern man bediente sich des sogenannten Stabreims oder der Alliteration, das heißt in einer oder in zwei aufeinander folgenden Zeilen hatten die bedeutungsvollsten Wörter denselben Anfangsbuchstaben, welcher von dem vortragenden Sänger noch besonders accentuirt wurde. Unsere biederen Altväter lagen hierbei auf ihren Bärenhäuten, tranken aus gewaltigen Trinkhörnern Meth oder Bier und begleiteten die alliterirenden Worte durch Anschlagen an die Schilde. Einige neuere Dichter haben Versuche gemacht, die Alliteration wieder einzuführen, haben jedoch wenig Beifall gefunden. Vielleicht wäre indessen für einzelne Fälle die Einführung derselben so übel nicht; manche stürmische Versammlung würde viel friedlicher verlaufen, wenn die Zuhörer die Reden ihrer Wortführer und Agitatoren alliterirend durch Klappern mit den Gläsern begleiteten, und mancher fromme Andächtige würde durch sanfte, alliterirende Rippenstöße vor dem fatalen und anstößigen Kirchenschlafe bewahrt werden.

Ist nun auch in unserer Poesie die Alliteration fast vollständig verschwunden, so sind doch noch mancherlei Nachklänge derselben vorhanden. Redensarten wie: sammt und sonders, hoch und heilig, Wehr und Waffen, Küche und Keller etc. giebt es allein hundert und mehr. Hierzu kommen noch andere mit ähnlich klingenden Anfangsbuchstaben, wie: kurz und gut, kreuz und quer, Gras und Kräuter, und wieder andere, wie: Schiff und Geschirr, Kraut und Rüben, die jedenfalls auch als alliterirende zu betrachten sind, da G in Geschirr und K in Kraut bei der Aussprache sehr wenig, dagegen das sch und r scharf hervortreten. Wir freuen uns über den goldgelb schimmernden Wein; ein Anderer wird quittengelb vor Aerger oder weiß wie die Wand; ein gesättigtes Grün nennen wir grasgrün; mancher Ehemann seufzt unter dem Joch einer wetterwendischen Frau oder gar einer bitterbösen Schwiegermama; oft wird Jemand windelweich gehauen und ist in Folge dessen lendenlahm etc. Wir rufen: Guter Gott, gerechter Gott, gütiger Gott, gnädiger Gott, und selbst der Teufel mußte sich schon von Alters her der Alliteration als Belzebub und Fliegenfürst unterwerfen, und jetzt gar, wo der arme Mann vollständig antiquirt und pensionirt ist, muß er sich als dummer Teufel brandmarken lassen.

Wahlsprüche und Büchertitel sind nicht selten ebenfalls alliterirend; so das „frisch, fromm, fröhlich, frei“ der Turner, treu bis in den Tod, ferner Blüthen und Perlen, Kreuz und Kelle, Hammerschläge und Historien. Ja auch die Gartenlaube rubricirt die kleineren Mittheilungen nicht unter „Blätter und Knospen oder Früchte“, sondern alliterirend unter „Blätter und Blüthen“. Fernere Beweise unserer noch bestehenden Vorliebe für die Alliteration sind Wörter wie: die blaue Blume der Romantiker, Griesgram, Zickzack, Singsang, Mischmasch und viele andere. Manche Dichter haben – bewußt oder unbewußt – neben dem Reim noch durch Alliteration eine besondere Wirkung hervorzubringen gesucht, besonders Bürger. Beispielsweise will ich den Schluß der „Lenore“ anführen:

„Geduld! Geduld! Wenn’s Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!
Des Leibes bist du ledig;
Gott sei der Seele gnädig!“

und den Vers aus „Lenardo und Blandine“:

„Wohl schwellen die Wasser, wohl hebet sich Wind;
Doch Winde verwehen, doch Wasser verrinnt.
Wie Wind und wie Wasser ist weiblicher Sinn,
So wehet, so rinnet dein Lieben dahin.“ –

Sollte nun die geehrte Redaction der Gartenlaube vorstehendes Product eines sehr heißen Nachmittags für nicht „gehauen und gestochen“ und für „ganz und gar“ unpassend zur Aufnahme unter die „Blätter und Blüthen“ erklären, so ist das kein „Schimpf und Schande“ für mich und geht mir auch nicht an „Kopf und Kragen“; mein „Wohl und Wehe“ wird dadurch gar nicht afficirt und mein „Haus und Hof“ und „Hab und Gut“ geht auch nicht verloren; ich ärgere mich weder „grün und gelb“, noch speie ich „Feuer und Flammen“; ich bin weder voll „Gift und Galle“, noch fluche ich „Tod und Teufel, Himmel und Hölle“ und „Donner und Doria“ – sondern ich gehe in „Friede und Freude“ an meine Geschäfte, trinke vielleicht ohne „Scham und Scheu“ einen „Kirsch und Kümmel“ und sage „frank und frei“: Ich war sehr „matt und müde“, der Tag war höllenheiß und: Viele sind berufen und Wenige auserwählt!!

A.

Ein Soldatenvater. Der verstorbene General von Hartmann, der Führer des zweiten bairischen Armeecorps. war im Dienst scharf und streng, sorgte aber dabei für seine Untergebenen in wahrhaft väterlicher Weise. Zeugniß davon giebt unter Anderem ein Brief, welcher im Schwaighof bei Tegernsee, einem von biederen Bauersleuten gehaltenen Schwefelbad, aufbewahrt wird. Dieser Brief, schön hinter Glas und Rahmen gebracht, befindet sich in einem Raume, welchen wir Badegäste die „Bildergalerie“ nennen, eine einfache Kammer, deren Holzwände mit zahlreichen Neu-Ruppiner Schlachtgemälden aus dem letzten Franzosenkrieg geschmückt sind. Welchen Eindruck die weltbewegenden Ereignisse dieses Krieges überhaupt auf das Volk der bairischen Alpen gemacht haben, davon sprechen die Bilder des Kaisers Wilhelm, des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des Prinzen Friedrich Karl, Bismarck’s und Moltke’s, die man neben den Bildern des bairischen Königs und der beiden bairischen Führer, von der Tann und von Hartmann, hier in so mancher Bauernstube findet.

Zur Erläuterung jenes Briefes sei vorausgeschickt, daß die vom Tegernsee stammende Frau eines Dachdeckers in Nürnberg, der im Juli 1870 mit hinausgezogen war in den Krieg, zu Anfang des Jahres 1871 Mutter ihres ersten Kindes geworden war. Da sie mittellos und in bedrängten Verhältnissen war, so hatte sie sich nach vorläufigem Abschluß des Friedens an General von Hartmann mit einem Gesuch gewendet, in welchem sie um Beurlaubung ihres Mannes bat. Darauf erhielt sie von Jenem folgenden eigenhändigen Brief, welcher zum ehrenden Gedächtniß Hartmann’s bekannt zu werden verdient:

Coulommiers, 9. April 1871.


     Liebe Frau Kretschmann!

In Erwiderung auf Ihren Brief vom 28. vorigen Monats benachrichtige ich Sie, daß ich Ihrem Manne heute Urlaub gegeben habe, um nach Hause zu gehen. Damit Sie aber bis zu seiner Heimkehr nicht hungern, sondern Ihrem kleinen Kinde gute Muttermilch geben sollen, lege ich einen Fünfthalerschein hier bei.

Empfangen Sie Ihren Mann nur recht freundlich und seien Sie ihm eine liebevolle und aufmerksame Frau, um ihn für die großen Anstrengungen zu entschädigen, die er, wie wir Alle, in dem vergangenen schweren Krieg haben aushalten müssen.

Ich grüße Sie herzlich als die Frau eines braven, mir untergebenen Soldaten, die ich Alle als meine Kinder betrachte.

Hartmann, G. d. J.“

Wirklich traf der Mann kurze Zeit darauf bei seiner jungen Frau glücklich wieder ein, die ihm zum Willkomm ein gesundes Töchterchen auf den Armen entgegenbrachte. Leider sollte die Freude der Wiedervereinigung nicht lange dauern. Es war ein tragisches Geschick, daß kaum drei Monate nach seiner Rückkehr aus Frankreich der Dachdecker von dem First eines hohen Hauses in Nürnberg herabstürzte und augenblicklich seinen Geist aufgab. So mußte gerade der Urlaub, welchen die sorgende Gattin ihrem Mann ausgewirkt hatte, diesem daheim den Tod bringen, welchem er in allen Kriegsgefahren glücklich entgangen war.

General von Hartmann, welcher von diesem Unglücksfall in den Zeitungen gelesen hatte, nahm sich der armen Wittwe an und unterstützte sie wiederholt mit ansehnlichen Geldbeträgen. Dieselbe zog später mit ihrem kleinen Kinde zurück in ihre Heimath am Tegernsee, wo sie als Büglerin in einer Waschanstalt für die Wäsche der Sommergäste ihr Fortkommen sucht. Ihr zweiundeinhalbjähriges Mädchen, das sie nicht mit in die Arbeit nehmen kann, hat sie in einer Bauernfamilie für sechzig Gulden jährlich untergebracht. Da sie täglich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein und sogar fast den ganzen Sonntag über beschäftigt ist, so kann sie höchstens Sonntagabends ihr Kind einmal sehen und mütterliche Liebe genießen lassen.

Dr. Adolf Müller.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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