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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


fühlte, auch wenn man über ihre altmodische Art lächeln mußte. So fand sich denn auch bald zwischen ihr und der Geheimen Räthin ein Verhältniß, das keinen Theil beengte und bei aller Verschiedenheit des Bildungsgrades und der Lebensstellung dadurch, daß immer nur das Gleichartige und Gemeinsame berührt wurde, selbst der Vertraulichkeit nicht entbehrte. Ottilie wurde ihr erklärter Liebling. Das muntere und kluge Mädchen lauschte ihr alle ihre kleinen Eigenheiten ab und ließ es sich nicht nehmen, sie bei ihren Besuchen in der Wirthschaft zu unterstützen. Wenn dann einmal ihre Mutter ansprach, so hatte die alte Frau immer über das liebe Kind zu sprechen, und die Räthin unterließ dann ihrerseits nicht, zu dem trefflichen Sohne Glück zu wünschen, der ein rechter Stolz der Familie sei. Dann leuchteten ihr die Augen und sie sagte: „Er hat’s von seinem Großvater, aber von meinem Gotthilfchen ist auch etwas dabei.“

Meister Lange nahm seine vormundschaftlichen Pflichten sehr ernst; es war ihm lieb, daß sie jederzeit den besten Vorwand zu den mancherlei Wohlthaten abgaben, die eigentlich auf Rechnung der verwandtschaftlichen Rücksichten und seines guten Herzens kamen. Er gab nicht verschwenderisch, aber immer an der rechten Stelle und auf die beste Art, oft durch seine Frau. Sein Hauptaugenmerk war mit der Räthin darauf gerichtet, daß „aus den Kindern etwas würde“; er sorgte deshalb auch dafür, daß Ottilie nun wirklich ein Seminar besuchte und sich zum Gouvernantenexamen vorbereitete. „Ob ein armes Mädchen aus gutem Stande einen Mann findet,“ meinte er, „ist ja doch zweifelhaft, und wer auf eigenen Füßen stehen kann, steht am sichersten.“ Gewisse Gedanken und Vorstellungen ließ er sich noch immer ungern nahe kommen.

Uebrigens legte die Räthin auch ihrerseits die Hände nicht in den Schooß. „Ich bin Ihnen für jede Wohlthat dankbar,“ sagte sie zu Lange, „die Sie mir und den Kindern zufließen lassen, wenn Sie aber der gute Wirth sind, für den ich Sie halte, so vertrauen Sie mir lieber leihweise ein kleines Capital an, mit dem ich eine Pension für Mädchen begründen kann; ich will es nebst den Zinsen ehrlich abtragen.“ Das gefiel ihm, und die Angelegenheit wurde sofort eifrig betrieben.

Das Lob, eine sehr verständige Frau zu sein, erwarb sich seine Schwägerin aber im vollsten Maße, als sie nach der Einsegnung ihres Knaben, die der Herr Vormund übrigens ganz aus eigener Tasche besorgte, dessen guten Rath einholte, was nun weiter mit ihm anzufangen sei. „Er hat nicht den besten Kopf zum Studiren,“ meinte sie, „und wenn es auch daran nicht fehlte, so werde ich doch bei allem Fleiß nicht die Mittel gewinnen, ihn noch viele Jahre zu unterhalten. Schließlich ist es nicht einmal ein Glück, wenn er sich mühsam durchquält, um eine dürftige Anstellung zu erreichen. Mag er werden, was sein Urgroßvater gewesen ist, ein Handwerker, und mag es ihm dabei so gut gelingen, wie seinem Onkel, an dem er das trefflichste Muster hat! Was meinen Sie, lieber Herr Schwager, wenn Sie ihn selbst in die Lehre nähmen? Ich würde dann wegen seiner Zukunft ganz beruhigt sein.“ Das war für Meister Lange eine Genugthuung, die das letzte Körnchen Eis zum Schmelzen brachte: der Sohn seines Bruders, der den armen Handwerksgesellen verleugnet hatte, sein Lehrling – ! das hatte er sich nicht träumen lassen. Die Sache schien ihm so wichtig, daß er mich besuchte, nur um mir Mittheilung davon zu machen, und aus jedem seiner Worte sprach die Befriedigung über diese unerwartete Wendung der Geschicke.

Aber ganz gegen seine Gewohnheit war er nach wenigen Tagen schon wieder da, und diesmal sehr niedergeschlagen und kleinlaut. Die alte Mama hatte Bedenken gehabt und er hinterher auch. „Es ist doch eigentlich eine Niederträchtigkeit,“ drückte er sich in seiner verärgerten Stimmung etwas hart aus, „daß man immer zuerst an sich und seine kleinen Vortheile denkt. Da freut es mich, daß der Sohn eines Regierungsraths Schuster werden soll, und ich vergesse ganz darüber, was ich selbst davon zu leiden gehabt habe, daß eines Pfarrers Sohn Schuster wurde. Und Jeder hat doch nicht einen Querkopf, wie ich, der allenfalls auch eine Mauer niederwirft. Wenn’s dem Jungen nun aber einmal schlecht bekommen sollte, und er würde mir Vorwürfe machen – seinem leiblichen Onkel und verordneten Vormund – daß ich nichts an ihn gewandt hätte, ob ich es doch konnte, ich würde mich, glaube ich, im Sarge umdrehen und mich mit dem Gesicht nach unten legen – vor Scham. Denn wenn es auch schade ist um das alte Schusterhaus, das mein Sohn doch nicht brauchen kann, und wenn sich’s auch ganz gut denken ließe, daß ich den Jungen zu einem tüchtigen Meister ausbildete und daß er dann mein Gehülfe bliebe, so lange ich lebte, und nach meinem Tode das Geschäft übernähme, und wenn es dann auch nicht einmal nöthig wäre, den Namen Lange vom Schild draußen fortzupinseln – es geht doch nicht an, ich kann’s nicht verantworten. Mag meine Schwägerin auf etwas Anderes denken!“

Ich konnte mich nur über diese auch jetzt probehaltige Gewissenhaftigkeit freuen und seine Vorsicht loben, aber das alte Handwerkerhaus lag mir doch selbst schon zu sehr am Herzen, als daß ich nicht nach einem Beruhigungsmittel hätte suchen sollen. „Studiren wird Ihr Neffe sicher nicht,“ calculirte ich laut; „er lernt schwer und ist in allen Fächern zurück. Aber damit ist freilich noch nicht gesagt, daß er gerade Schuhmacher werden muß, wennschon ich nicht einsehe, warum er nicht ebenso gut Schuhmacher werden soll, wie etwas Anderes, besonders wenn er schon mit so glänzenden Aussichten in die Lehre tritt. Aber Jeder hat seinen Geschmack, und Zwang thut niemals gut. Ich will Ihnen etwas rathen: nehmen Sie den Knaben in Ihr Haus; lassen Sie ihn vorläufig noch in die Schule gehen, damit er sein Wissen vervollständigt, unterrichten Sie ihn nebenher auch in Ihrem Handwerk, und mag er sich dann nach einem Jahre selbst entscheiden. Will er dann auslernen – gut! Aber dabei dürfen Sie es nicht bewenden lassen; er muß dann auch noch zu einem Kaufmann in die Lehre, damit er später einen Schritt vorwärts kann. Jede Zeit hat ihre Erwerbsweise und die unsere drängt auf den Betrieb im Großen; dazu aber gehören kaufmännische Kenntnisse. Ich denke mir, es wird dem alten Hause kein Abbruch an seinem Ruhm geschehen, wenn ein Fabrikant sein Geschäftslocal darin hat. Eine Frau Meisterin, wie Sie einmal, findet ja doch Niemand wieder darin.“

Eine dicke Thräne rollte ihm in den grauen Bart. „Nein – Niemand wieder“ – sagte er, „und mit den zünftigen Meistern ist’s auch Matthäi am letzten. Sie haben Recht, und so soll es geschehen.“ Er preßte meine Hand, als ob er sie gar nicht loslassen könnte. Ich versprach ihm, ihn zu begleiten, um der alten Frau die Sache plausibel zu machen. „Mir traut sie in diesem Punkt nicht recht,“ gestand er.

Die alte Mama aber hatte, als wir bei ihr anlangten, den Kopf von ganz anderen Dingen voll und hörte kaum auf unsere Reden. „Ich bin’s zufrieden, Gotthilfchen,“ sagte sie, „wie Dir’s gut scheint – so oder so; wenn Du nur auch mit dem andern – “ Sie stockte und zupfte an ihrer Schürze und zog sie über die Kniee hin noch breiter aus, als sie schon an sich war. „Was in aller Welt hast Du denn?“ rief der Meister, ärgerlich über ihre Gleichgültigkeit. „Letzte Nacht hat Dich’s doch gar nicht schlafen lassen und jetzt –“

„Es ist ja gut,“ meinte sie hüstelnd, „daß sich’s so einrichten läßt, und morgen werde ich mich vielleicht darüber in aller Ruhe freuen können, aber heute, Gotthilfchen –“

„Was ist denn seit einer Stunde vorgegangen?“

„Es ist ein Brief angekommen, Gotthilfchen, mit einem großen Siegel, und er ist auch schon aufgemacht“ – sie holte unter ihrer Schürze ein Papier vor und reichte es ihm – „der da!“

„Was wird’s denn sein?“ sagte er, den Bogen öffnend. „Mein Sohn ist Kreisrichter geworden,“ wandte er sich gleich darauf an mich. „Daran ist ja doch nichts Besonderes!“ Sein ganzes Gesicht war aber heller Sonnenschein.

„Ja, aber nun er eine Stelle und ein selbstständiges Einkommen hat,“ schmunzelte die alte Mama, „will er auch gleich heirathen.“

„Was?“ Das Blatt fiel auf den Tisch.

„Heirathen will er, Gotthilfchen, und seine Frau mitnehmen. In der kleinen Stadt ist’s sonst gar zu langweilig, meint er.“

„Aber dazu muß er dann doch zuerst eine Braut haben, sollt’ ich denken.“

„Gewiß – und die hat er auch schon.“

„Er hat –?“

„Eine Braut, Gotthilfchen, und sie ist ein sehr hübsches und gebildetes Mädchen, die ihn wohl glücklich machen kann –“

„Was? Du kennst sie gar schon?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 564. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_564.JPG&oldid=- (Version vom 9.7.2021)