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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Ihnen!“ rief sie vortretend und seine Hand ergreifend. „Ich hatte so wenig Hoffnung – so wenig! Und ich würde auch gar nicht gewagt haben, wenn nicht der Herr Richter selbst –“ sie drückte nun auch mir die Hand und wandte sich gleich wieder zu dem Alten – „ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von Herzen.“

Lange schien durch dieses freundliche Entgegenkommen innerlichst erwärmt zu werden; er hatte sich die „Geheime Räthin“ sicher ganz anders vorgestellt, und es kam über ihn selbst eine Bewegung, die sich sehr sonderbar in einem wohlbehaglichen Lächeln auf dem eben noch starren Gesicht äußerte. „Wenn’s Ihnen nur ein einfacher Handwerker recht machen kann,“ sagte er, sich nach seinem Sohne umsehend, dessen Gegenwart ihn offenbar genirte.

„O, wie sprechen Sie doch, lieber Herr Schwager!“ verwies die Wittwe sanft. „Weiß ich denn nicht längst von Ihrem lieben Sohne, mit wem ich’s zu thun habe? Und sollte es Ihnen nicht bekannt geworden sein, in wie traurigen Umständen mein Mann seine Familie hat verlassen müssen? Ich wünschte, mein Sohn könnte ein so achtbarer und nützlicher Bürger werden, wie Sie es sind, und ich bitte Sie, ihn zu allem Guten anzuleiten, damit er einmal ein braver Mensch wird und sein Brod in Ehren verdient. Er ist noch in der Schule; aber dort meine Tochter – Ottilie! danke Deinem lieben Onkel, daß er Dein Vormund sein will.“

„Was ist da zu danken? Was ist da zu danken?“ wehrte der alte Herr ab. Aber das Mädchen war schon auf ihn zugegangen, hatte ihm Hut und Stock abgenommen und gab ihm einen hellklingenden Kuß.

„Ich wußte es ja schon,“ sagte sie, indem sie ihm nun auch einen Stuhl hinsetzte und ihn am Arme niederzog.

„Sie wußten es?“ fragte er überrascht und zugleich wieder durch die Aufmerksamkeiten abgeleitet, die ihm die stattliche und hübsche junge Dame bewies; „aber ich bitte Sie, Fräulein, bemühen Sie sich doch nicht!“

„Fräulein!“ lachte sie auf. „Nein, das ist nicht hübsch, Onkelchen, daß ein so naher Verwandter so fremd thut. Gesehen haben wir uns im Leben zwar noch nicht, aber dafür kann doch Keiner, und Onkel und Nichte bleiben wir doch immer. Oder soll ich den Herrn Vormund ganz feierlich Sie tituliren?“

Der Meister schüttelte schmunzelnd den Kopf, sah bald mich, bald die Räthin an, als ob er fragen sollte: „Was meint Ihr dazu?“ hustete, wie Einer, der etwas in die unrechte Kehle bekommen hat, und murmelte dazwischen: „Es gewöhnt sich doch nicht so leicht. Aber wenn wir öfter zusammen sein werden – und es macht sich auf gute Art – und die Frau Mama hat nichts dagegen –“ Sein Blick schweifte über den Assessor hin, der vergebens ein schelmisches Lächeln zu unterdrücken suchte, und nun fing der Alte sich über sich selbst zu ärgern an und richtete sich höher auf. „Freilich, Onkel und Nichte,“ sagte er, „und alles Andere ist sehr gleichgültig, und mein Sohn ist denn doch auch, was mein Bruder gewesen ist, und kann, so Gott will, auch noch höher hinauf, und wenn der Onkel auch nur ein Schuhmacher ist, so braucht sich doch Niemand seiner zu schämen – und so ist’s gut!“ Er zog das Taschentuch hervor und trocknete die Stirn.

„Und ich darf also ‚Du‘ sagen, Onkelchen?“ fragte das Mädchen, ohne sich durch seine wunderlichen Exclamationen verwirren zu lassen. „Natürlich! Ich weiß ja, daß Du ein seelenguter Mann bist. Soll ich sagen, von wem ich das erfahren habe?“

Er ließ sich’s gefallen, daß sie sich auf seine Schulter stützte und ihm die Hand streichelte. „Dummes Zeug,“ murmelte er in den Bart.

„Soll ich’s sagen? – Von der Tante!“

„Von –?“ Er drehte rasch den Kopf zurück.

„Von der Tante – von Deiner Frau nämlich, die muß es doch am besten wissen. Ach! das ist ein vortreffliches altes Mütterchen!“

„Sie waren – Du warst bei meiner Frau?“ fragte er ganz verblüfft. „Und sie hat mir nichts davon erzählt?“

„Weil ich sie gebeten habe, es zu verschweigen, bis ich es selbst erzählen könnte. Ich mußte doch meiner Tante einen pflichtschuldigen Besuch machen, nicht wahr? Und weil ich doch nicht wußte, wie ich aufgenommen werden würde, nannte ich mich lieber der alten Magd gar nicht und sagte nur, ein armes Mädchen komme, um sich nach Näharbeit zu erkundigen. Und so kam ich hinauf in die Stube, und als ich erst dort war, fand sich das Andere leicht. Wir haben ein Bischen zusammen geweint und ein Bischen zusammen gelacht, und sie hat mich endlich mit gutem Troste entlassen, daß der Onkel gar nicht so schlimm sei und sich schon halb und halb entschlossen habe, unser Vormund zu werden. Siehst Du, so weiß ich’s.“

Meister Lange zupfte seinen grauen Bart und wiegte nachdenklich den Kopf. „Darum redete sie auch so halsstarrig zu,“ sagte er vor sich hin, „ei, ei – die alte Mama – !“ Dann stand er auf und meinte, es sei genug für heute, man müsse auch etwas auf den andern Tag lassen, und die Frau Schwägerin wüßte ja, wo er zu finden sei, wenn der Vormund einhelfen solle. Offenbar wollte er gegen die Festung, in der sich der alte Groll verschanzt hatte, nicht zu heftig anrennen lassen, weil er die Mauern schwach werden fühlte. Es sollte nicht so schnell gehen mit der Freundschaft. „Bleibst Du noch?“ fragte er seinen Sohn; aber es klang, als ob er eigentlich sagte: „Du kommst doch mit?“

Der Assessor verstand ihn sehr gut und empfahl sich gleichfalls. Aber auf der Straße trennte er sich sehr bald von uns unter irgend einem Vorwande. Ich konnte mir denken, daß er jetzt ein Gespräch mit seinem Vater unter vier Augen zu vermeiden wünschte.

Wir Beide gingen noch eine Strecke schweigend fort. Erst als unsere Wege sich trennten, sagte der Meister: „Was halten Sie nun davon?“

„Wovon?“ fragte ich, wirklich nicht errathend, wohin seine stillen Gedanken sich gewandt haben mochten.

„Ach – daß mein Sohn da –“

„Ihr Sohn? Was weiter?“

„Hm – ich glaube, die Bekanntschaft ist gar nicht hier erst angeknüpft.“

„Kann wohl sein.“

„Aber gegen mein ausdrückliches Verbot –“

„Er ist ja kein Kind mehr.“

„Hm – aber er hat noch einen Vater am Leben, und in gewissen Fällen –“

„In gewissen Fällen, lieber Meister,“ sagte ich, indem ich ihn beim Knopfe faßte und ein wenig zu mir heranzog, „in gewissen Fällen ist’s allemal gut, wenn die Väter nicht weiser sein wollen als die Kinder. Es giebt Dinge, über die man sich nicht den Kopf zerbrechen muß. Der Fromme hat einen Spruch: ‚Der Mensch denkt, und Gott lenkt‘ – mag sein, daß wir dem alten Herren da oben zu viel zumuthen, aber daß der Mensch ‚denkt‘, ist wohl gewiß, und daß die Weltregierung nach unserem Denken herzlich wenig fragt, nicht minder. Es hat auch seine guten Gründe, lieber Meister.“

Er folgte meinen Worten mit so gespannter Aufmerksamkeit, als ob irgend ein wichtiges Geheimniß enthüllt werden sollte, und er sah mich noch immer erwartungsvoll an, als ich schon schwieg. Dann ließ er langsam den Kopf auf- und abnicken, murmelte ein leises „Hm – hm,“ zog ehrerbietig den Hut und ging. –

Von Dem, was noch zu berichten ist, bin ich nicht durchweg Augenzeuge gewesen, wie bei dem Vorigen, aber es ist gleichwohl gut verbürgt. Keine Eiche fällt auf einen Hieb, und Meister Lange gehörte zu diesen knorrigen Gewächsen, die meine Heimath noch erzeugt. Nachdem einmal Bahn gebrochen war, half kein Sträuben weiter – der Verkehr der beiden Familien wurde, wenn auch nicht von Tag zu Tag, so doch von Woche zu Woche intimer. Man muß es der alten Mama zur Ehre nachsagen, daß sie reichlich das Ihrige dazu beitrug, eine aufrichtige Versöhnung zu Stande zu bringen. Erst jetzt lernte ich diese merkwürdige Frau recht schätzen, die in dem Stübchen hinten auf ihrem Lehnstuhle am Spinnrade so sicher saß und ihre kleine Welt beherrschte, daß Alles, was sich ihr näherte, ungezwungen in ihren Bann kam und sich ihrer Weise anbequemen mußte. In ihrer Schlichtheit lag zugleich eine ganz eigene Vornehmheit, die Jedem seine Ehre gab, um ihrer Ehre gewiß zu bleiben, und daraus erwuchs eine solche Sicherheit des Benehmens, daß man sich in ihrer Gegenwart immer behaglich

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