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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

und Sohne in’s Grab folgen mußte. Was half es, daß der Arzt ihre Krankheit als ein bei der vorhergegangenen Aufregung sehr erklärliches Nervenfieber bezeichnete: die Familienglieder waren überzeugt, die eigentliche Todesursache besser zu kennen. Ob man auch an dem Leichname der Mutter die mehrerwähnten Vorsichtsmaßregeln getroffen, ist mir nicht bekannt geworden; vielleicht schützte sie dagegen der Aberglaube selber, welcher in der Regel nur von männlichen Vampyren zu erzählen weiß.

Das Kreisgericht beharrte bei seiner Ansicht, daß, wenn auch das große Unglück, welches die Familie heimgesucht hatte, als Milderungsgrund anzusehen sei, man doch in dem Aberglauben, der gewiß das Unglück selbst beförderte, eine gänzliche Entschuldigung ihres Thuns nicht finden könne, und hielt deshalb an der Verurteilung fest. Natürlich appellirten die Verurtheilten von Neuem, und das Appellationsgericht von Cöslin wiederholte sein freisprechendes Erkenntniß, da der Mangel des dolus klar sei, der Hauptangekagte sich entschieden im Zustande einer relativen (!) Nothwehr befunden habe und, im Vampyr-Aberglauben befangen, gar nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt habe. Der Oberstaatsanwalt wiederholte nochmals seine Nichtigkeitsbeschwerde, indem er, wie mich dünkt, sehr richtig ausführte, daß von einem gänzlichen Mangel des dolus um so weniger die Rede sein könne, als eine besondere Warnung des Geistlichen vorausgegangen war; der Angeklagte wußte also bei Vornahme seiner That ganz genau, daß er gegen die Staatsgesetze verstoße; er konnte sich also, selbst in seinem Wahne befangen, nicht verhehlen, daß er dem Strafgesetze mit einer gegen das erwartete Gut (die Rettung seiner Familie) freilich gering anzuschlagenden Strafe verfalle. Wenn außerdem das Strafgesetz den Nothstand als einen strafausschließenden Fall betrachte, so könne dieser Paragraph hier keine Anwendung finden, da der Gesetzgeber gewiß keinen durch Aberglauben erzeugten Nothstand im Sinne gehabt habe, den sich der Handelnde in seiner Geisteskrankheit erst selbst schafft, und dessen blinde, erträumte Gefahren er mit grauenhaften Zauberkünsten zu verscheuchen gedenkt. Wenn man erwägt, daß selbst derjenige, der durch Unkenntniß, Unvorsichtigkeit und Leichtsinn die Gesetze übertritt, gestraft wird, so sollte wohl Aberglaube nicht als gänzliche Entschuldigung dienen können, am wenigsten bei einer Familie, die die Mittel besaß, ihren Angehörigen einige Schulbildung anzueignen. Und wie stand es endlich mit der Straflosigkeit der beiden Arbeiter, die sich doch gewiß in keinem directen Nothstande befunden haben, wenn man nicht so weit gehen will, das ganze Dorf Kantrzyno durch das Umsichgreifen der Vampyrseuche für gefährdet zu halten?

Es liegt mir natürlich fern, den Urtheilsspruch des Ober-Tribunals der Provinz, welches sich dem freisprechenden Erkenntnisse des Appellationsgerichtes anschloß, hier kritisiren zu wollen; wir können den Beklagten in diesem Processe die endlich im Frühjahre vorigen Jahres erfolgte endgültige Freisprechung von ganzem Herzen um so lieber gönnen, da sie im Grunde nur sich selber geschadet haben, und den Todten die Operation nicht weh gethan haben wird. Eine andere Frage ist es freilich, ob dieser Urtheilsspruch nicht einen verhängnißvollen Präcedenzfall geschaffen, der den relativen Nothwehrstand der Anhänger dieses Glaubens rechtfertigt, und damit dem Aberglauben Vorschub leisten könne. Die Gerichte haben gleichsam eine Berechtigung dieses Aberglaubens noch für das neunzehnte Jahrhundert anerkannt. Da drängt sich die Frage auf: wie steht es mit dieser düstern Form des Aberglaubens, hat sie noch Wurzeln im Volke oder gar unter den Gebildeten? Wir können leider nicht mit Nein antworten. Denn vor wenigen Wochen (Juli 1873) kam vor dem Kreisgerichte zu Schwetz (Westpreußen) die Anklage einer neuen Grabschändung aus gleichen Motiven zur Verhandlung. Der Ziegler M. aus Neu-Klunkwitz hatte mit Hülfe zweier seiner Schwäger und einer dritten Person das Grab seiner verstorbenen Frau geöffnet und ihr den Kopf mit der Axt abgehauen, weil ihre Schwester ihr schnell im Tode gefolgt war. Auch hier war die Stärkung durch Schnaps vorausgegangen, und es hatte den Betheiligten geschienen, als ob sich bei dem erst versuchten Spatenhiebe, der so ungeschickt geführt wurde, daß der Spaten zerbrach, die Leiche erhebe. Das Gericht sprach die Angeklagten wiederum wegen des vermeintlichen Nothwehrstandes von der Leichenschändung frei, verurtheilte sie aber wegen Grabschändung zu acht Tagen Gefängniß. Eine andere Vampyr-Geschichte, gleichfalls aus der neuesten Zeit, die aber größere Dimensionen annahm und ebenfalls ganz ungebildete Leute betraf, werden wir im nächsten Aufsatze zu erwähnen haben.

Was die Bildung der, wie es scheint, dem polnischen Adel entstammenden Familie der Poblocki’s anbetrifft, so dürfte sie, so weit dies in dem Processe hervortrat, diejenigen der Landbewohner (unter denen, wie erwähnt, in Polen und Westpreußen der Vampyr-Aberglaube ebenso verbreitet ist, wie in den außerdeutschen Ländern slavischen Stammes) nicht wesentlich überragen. Obwohl dem begüterten Stande angehörend, konnten die Angehörigen der Familie nur nothdürftig lesen, wohl kaum durchweg schreiben. Indessen wie wenig in Aberglaubensgegenständen auf formelle Bildung Werth zu legen ist, wie sehr zu entschuldigen bei wenig gebildeten, vom Unglück heimgesuchten Leuten der Vampyr-Glaube war, wird uns klar werden, wenn wir demselben Glauben in seinen letzten Consequenzen bei gelehrten Leuten unserer Zeit begegnen, ohne daß sie durch persönliches Unglück zu solchen Schlüssen getrieben wurden. Ich will nicht von Görres reden, der im dritten 1840 erschienenen Bande seiner christlichen Mystik den Vampyr-Aberglauben in seiner vollen Schrecklichkeit heraufbeschwört, sondern von dem gelehrten Professor einer schweizer Universität, Maximilian Perty, der mit seinen aufklärungsfeindlichen Schriften den Büchermarkt überschwemmt, durch das wissenschaftliche Mäntelchen, welches er seinen mittelalterlichen Deductionen umhängt, überall Anerkennung zu finden weiß und dadurch doppelten Schaden in den Geistern anrichtet. Im ersten Bande seines Werkes über die mystischen Erscheinungen der menschlichen Natur (Seite 384 der zweiten 1872 erschienenen Auflage) findet der Professor die natürliche Erklärung des Vampyrismus sehr einfach darin, daß die Seele des im Grabe ruhenden, nicht sterben könnenden Vampyrs jahrelang traumartig umherirre, die bekannten Häuser ihrer Familie aufsuche, dort Hunger und Durst des im Grabe zurückbleibenden inzwischen seelenlosen Leibes stille, indem sie den Verwandten das Blut aussauge, welches sich dabei in einen geistigen ätherischen Körper umsetze und erst wieder nach der Rückkehr zu dem begrabenen Körper dort zu wirklichem nährendem Blut werde!! Wenn man bedenkt, daß derartige Lehren von einem Doctor der Philosophie und Medicin, Professor an der Universität Bern, heutiges Tages öffentlich vorgetragen werden, so wäre es gewiß unrecht, die Poblocki’s wegen ihres Wahnes zu strafen, und doch, wo bleibt die Grenze? Ich denke, es wird nach dem Vorausgeschickten nicht unzeitig erscheinen, der historischen Entwickelung eines Aberglaubens nachzugehen, der in unserer Zeit so herrliche Blüthen treibt, um so mehr, als ich dabei etwas Anderes versprechen kann, als die ohne Sinn und Kritik zusammengeschriebenen Beispielsammlungen, wie sie Calmet, Görres, Perty und ähnliche Denker geleistet haben.

Einem Vampyr selber vergleichbar, der im Grabe der Jahrhunderte ruht, um bei passender Gelegenheit noch in unseren Tagen mit allen Schrecknissen seiner Natur hervorzusteigen, haben wir den Vampyr-Aberglauben in dem Vorhergehenden kennen gelernt. Er hat seine Wurzeln, wie die meisten Aberglaubensformen, in der Kindheitsperiode der Menschheit und breitet sich, wenn nicht über die ganze Erde, so doch wenigstens über die gesammte arische Völkerfamilie aus. In der ältesten Sanskritliteratur begegnet man bereits der Erwähnung feindseliger Dämonen, die nach Menschenblut lüstern sind und namentlich Frauen im Zustande des Schlafes oder der Trunkenheit übermannen. Sie führen die unser Ohr sehr anheimelnden Namen Pisâchas und Vantasias, obendrein sehr bezeichnend, wenn man dabei an’s „Pisacken“ der Lebendigen durch Phantasie- oder Traumgebilde denkt. Noch harmloser gestaltet sich diese Sage in ihrer Ursprungsform, wenn man in Manu’s Gesetzbuche liest, daß Spinnen, Wanzen, Flöhe und ähnliche blutdürstige Thiere als die sichtbaren Verkörperungen der blutdürstigen Pisâchas gelten. Wenn man in Indien die blutsaugenden Fledermäuse Südamerikas – die sogenannten Vampyre der Zoologie – gekannt hätte, würden diese wohl obenan in jener Reihe gestanden haben. Die Seele eines Menschen, der einem Priester Geld stiehlt, ist nach Manu verdammt, vor ihrer endlichen Erlösung tausendmal in den Körper dieser gehaßten Thiere einzugehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_557.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)