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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Die alte Mama hatte eine große Brille auf der Nase und ein Blatt in der Hand, dessen Inhalt sie studirte. „Ich habe einen Brief bekommen,“ sagte sie, nachdem sie mir freundlich zugenickt hatte, „und rathe einmal von wem, Gotthifchen? Von unserem Sohn.“

„So –! was will denn der wieder?“ fragte er barsch und die Freude glänzte doch dabei von seinem Gesicht.

„I – um Geld ist’s nicht, Gotthilfchen,“ antwortete sie lächelnd, „so viel hab’ ich wohl selbst herausgebracht. Er schreibt aber so schnell, daß immer die Buchstaben in einander gehen, und so wird mir das Lesen schwer. Ich sehe aber, daß er hierherkommen will.“

Meister Lange nahm ihr etwas hastig den Brief aus der Hand und trat damit an’s Fenster. „Wahrhaftig!“ sagte er nach einer Weile, „er will herkommen und beim hiesigen Gericht arbeiten, um sich zu einer Anstellung in der Provinz besser vorzubereiten. Als ob es für ihn so eilt! Hm – hm! dahinter steckt etwas.“

„Er muß ja am besten wissen, was für ihn taugt,“ meinte ich; der Alte aber schüttelte den Kopf, wendete das Blatt und las es von Neuem. „Und daß er deshalb an die Mutter schreibt –“ murmelte er halblaut. „Noch jedes Mal, wenn er an die Mutter geschrieben hat, gab’s hinterher irgend etwas Dummes zu vertuschen. So war’s schon auf dem Gymnasium und auf der Universität.“

„Nu, nu, Gotthilfchen,“ beruhigte sie, „wozu ist denn so eine alte Mutter gut, wenn der Vater ein Bischen strenge ist, oder wenigstens strenge thut. Und es kann ja auch einmal anders sein. Was wird es jetzt wohl noch zu vertuschen geben? Er will herkommen, und es ist ja doch möglich, daß er sich nach uns bangt und daß ihm da zuerst die Mutter einfällt – es ist ja doch möglich, Gotthilfchen.“

„Dann wär’s ja auch an einem Besuch genug,“ knurrte der Meister, „aber hier in Arbeit treten und dann in die Provinz – wozu hat er das nöthig?“

„Was können Sie aber dagegen haben?“ fragte ich.

„Er soll hoch hinaus,“ fuhr er heftig auf, „über alle seine Onkels hinweg, und auch über den geheimen Regierungsrath! Das ist er seinem Vater schuldig. – Sie wissen ja, weshalb!“ setzte er tiefer hinzu. Die alte Mama seufzte.

Freilich wußte ich, weshalb. Aber ich machte da doch wieder eine sehr merkwürdige Erfahrung. Derselbe Mann, der mit so tiefem Kummer seine ganze Familie verloren hatte, weil er durch die Umstände auf eine tiefere Gesellschaftsstufe gestellt wurde, und der dann, eines Philosophen würdig, seine Ehre darein setzte, zu beweisen, daß Menschenwerth allein nach sich selbst zu messen sei, derselbe Mann entfremdete den einzigen Sohn seiner Familie, um ihn äußerlich möglichst hoch gestellt zu sehen und so über diejenigen zu triumphiren, die er doch nicht achtete, verleugnete den Grundgedanken seines Lebens im eigenen Kinde. Und das Alles, ohne sich dieser Inconsequenz auch nur im Entferntesten bewußt zu werden. Es scheint nun einmal in der Menschennatur das Bedürfniß zu liegen, von dem eigenen Gesetz abzuspringen und ein fremdes zu adoptiren. Daher der stete Wechsel der Erziehungsmethode von Generation zu Generation, daher auch das fortwährende Heben und Senken in den sich immer erneuernden Bestandtheilen der Gesellschaft – schließlich allerdings die einzige Garantie gegen Verknöcherung und Versumpfung. –

Bald darauf stellte sich mir der Assessor Lange vor. Er hatte sich wirklich an dieses Gericht zu seiner praktischen Ausbildung schicken lassen und sprach die Absicht aus, hier zu bleiben, bis er in eine Richterstelle einrücken könne.

„Was sagt denn Ihr Vater dazu?“ fragte ich, so gut ich es auch wußte.

„Ach, mein Himmel,“ antwortete er lächelnd, „der möchte mich am liebsten gleich zum Ministerialrath machen; aber mein Ehrgeiz ist schwer zu spornen. Ich habe mich da oben lange genug umgetrieben, um zu wissen, daß ich überall gegen diejenigen zu kurz kommen werde, die gute Connexionen mitbringen. Warum also mich außer Athem setzen, um doch am Ziele die Leute mir vorangehen zu sehen, die gemächlich in ihrer Väter Carossen fahren. Kennen Sie das Chamisso’sche Gedicht von dem Pechvogel? ‚Doch mein Vater war ein Schneider, und das ist genug gesagt.‘ Ich möchte es an mir nicht probiren.“

„Ihr Vater ist sehr wohlhabend,“ meinte ich, „und Geld hat überall einen guten Klang.“

„Er ist freilich recht wohlhabend für einen Handwerker,“ entgegnete er, „und wenn er mich nicht deshalb enterbt, weil ich durchaus nicht Carrière machen will, so werde ich einmal als Richter nicht ängstlich auf eine Gehaltsverbesserung zu warten nöthig haben und wirklich unabhängig in der Welt dastehen. Ist das nicht alles Dankes werth? Vorläufig wünsche ich aber meinen guten Eltern Methusalem’s Alter, und da ich nachgerade doch auch in die Jahre komme, in denen man nicht mehr gern aus seines Vaters Tasche lebt und seinen eigenen Weg gehen will, so glaube ich ganz vernünftig zu handeln, wenn ich eine Anstellung suche. Wohin der Ehrgeiz ohne bequeme Grundlage einen gescheidten Menschen führen kann, das habe ich an meinem Onkel Regierungsrath gesehen –“

„Sie haben ihn kennen gelernt?“ fiel ich ein.

„Sprechen Sie meinem Vater nicht davon,“ bat er, „er hatte mir’s auf’s Allerstrengste verboten, das Haus seines Bruders zu betreten. Aber ich bin unfolgsam gewesen – aus gewissen Gründen, die nicht hieher gehören. Mein Onkel war so schlimm nicht, als ihn sich mein Vater in seinem ganz gerechten Zorn malt. Er hat an ihm unbrüderlich gehandelt, das ist gewißlich wahr, aber entschuldigen läßt er sich wohl, wenigstens von unserem Standpunkte aus. Mein Onkel war brennend ehrgeizig; er hatte, als mein Vater ihm begegnete, so eben in eine adelige Familie hineingeheirathet, die ihn nur sehr ungern und nach heftigem Widerstreben aufgenommen hatte; er verwaltete damals ein Polizeiamt. Und nun kam ihm ein armer, abgerissener Schuhmachergeselle in den Weg, der in seinem Ränzel verbotene französische Schriften einschleppte und sich seinen Bruder nannte. Vielleicht hätten wir an seiner Stelle liebevoller gehandelt – vielleicht auch nicht. Mein Vater hat dafür natürlich kein Einsehen, und ich als sein Sohn muß mich hüten, ihm zu widersprechen, aber Sie haben ja so viel Einfluß auf ihn, wie ich von der Mutter weiß; könnten Sie nicht gelegentlich ein versöhnliches Wörtchen einfließen lassen?

Ich versprach es gern, erfreut, beim Sohne so viel Billigkeit zu finden.

„Wenn mein Vater gewußt hätte, welches Leben sein ehrgeiziger Bruder führte, er hätte darin vielleicht eine Ausgleichung gesehen,“ fuhr er fort. „Seine erste Ehe war sehr unglücklich. Seine Frau, durch ihre Verwandten fortwährend zurückgesetzt, scheint die bürgerliche Heirath bereut zu haben. Onkel Erhard stürzte sich in Schulden, um ein ansehnliches Haus zu machen; er ließ sich zu den unwürdigsten Diensten brauchen, um schnell zu avanciren. Es nützte ihm wenig. Die Kinder wurden von der Mutter ganz nach aristokratischen Grundsätzen erzogen, die sie selbst so unliebenswürdig in diesem ungleichen Verhältniß machten, und dem eigenen Vater möglichst entfremdet. Es konnte ein Glück für ihn scheinen, daß sie unerwartet früh verstarb. Das geschah vor etwas mehr als zwanzig Jahren, und mein Onkel, der längst Geheimer Regierungsrath geworden war und im Ministerium arbeitete, hätte sich nun wohl häuslich einschränken, ein Arrangement mit seinen Gläubigern treffen und etwas vom Leben genießen können. Aber nun begegnete ihm, der bisher so vorsichtig jeden Schritt berechnet hatte, ein ganz eigener Unfall. Er verliebte sich mit einer Leidenschaftlichkeit, die sich nur aus dem unbewußten Drange des Gemüths, für die sich so lange selbst aufgelegten Entbehrungen eine Entschädigung zu finden, erklären läßt, in die Gouvernante seiner Töchter, ein blutarmes und nicht einmal durch Schönheit ausgezeichnetes Mädchen, das Kind eines Subalternbeamten in der Provinz, die Enkelin eines Handwerkers. Seine Neigung wurde erwidert, das Verlöbniß aber geheimgehalten, bis den Verwandten der ersten Frau zugleich mit demselben auch der Hochzeitstag bekannt gemacht werden konnte. Sie waren empört über dieses, wie es ihnen schien, hinterlistige Verfahren, noch mehr darüber, daß mein Onkel alle ihrem Stande schuldigen Rücksichten bei seiner Wahl verletzt hätte, entblödeten sich nicht, das Verhältniß als ein unsittliches und unwürdiges überall zu verschreien, und ruhten nicht eher, bis die Kinder der ersten Frau, denen inzwischen ein beträchtliches Vermögen zugefallen war, der Stiefmutter entzogen und in eine von ihnen beabsichtigte Pension gebracht wurden. Nicht genug daran, sie hetzten auch so lange

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