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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
X.


Die Liebebedürftigkeit des „Göttersohns“ der Frau Aja angesehen, war er jetzt, da das Jahr zu Ende ging, eine gute Weile ohne Flamme gewesen. Flämmchen zählen nicht … Auf dem großen Kornmarkt in Frankfurt zeichnete sich damals vor den übrigen Gebäuden das schöne große Eckhaus neben der reformirten Kirche aus. Im Erdgeschosse dieses Hauses wurde ein großes Bankgeschäft betrieben, welchem die Söhne der verwittweten Besitzerin, Frau Susanne Elisabeth Schönemann, vorstanden. In den glänzend eingerichteten Zimmern, welche neben und über den Kontorräumen lagen, empfing Frau Schönemann allabendlich Gesellschaft, zu deren Unterhaltung die Musik das meiste thun mußte. In dieses Haus wurde unser Dichter an einem der letzten Abende des Jahres 1774 eingeführt und war nur eben in den Musiksaal eingetreten, als sich die Tochter des Hauses, die sechszehnjährige Anna Elisabeth, vertraulich und zärtlich Lili geheißen, an den Flügel setzte und mit Fertigkeit, Verständniß und Anmuth eine Sonate spielte. Nachher stellte sich Goethe dem jungen Mädchen vor und die Bekanntschaft war gemacht. „Wir blickten einander an“ – erzählt er in seiner Selbstbiographie – „und ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft der sanftesten Art zu empfinden glaubte.“ Als er wegging, hieß die Mutter ihn wiederkommen, in welche Aufforderung die Tochter „mit einiger Freundlichkeit einstimmte.“ Er kam wieder und kam immer wieder und hatte bald zwingende Veranlassung, sein Lied „Neue Liebe, neues Leben“ zu dichten, welches mit der Frage:

„Herz, mein Herz, was soll das geben?
Was bedränget dich so sehr?“

anhob. Nun, ihn bedrängte eben wieder einmal das liebe Drangsal, welches nie ausgesagt und nie ausgesungen sein wird, so lange Mann und Weib auf Erden. Aber war die Lili-Liebe wirklich eine so große Leidenschaft, wie uns der Dichter glauben machen will? Doch kaum! Die Darstellung des Verhältnisses in „Dichtung und Wahrheit“ trägt entschieden die Signatur der ersteren: es ist augenscheinlich idealisirt und mittels der Zeitferne in verschönernde Beleuchtung gerückt. Kein Zweifel allerdings, der Wolfgang brannte und Lili glimmte und Beide hatten es, nachdem sie einmal durch die Dazwischenkunft einer resoluten Freundin (Fräulein Delf) soweit gekommen, sich mit einander zu verloben, zeitweilig auf eine Heirat abgesehen. Aber man halte doch einmal die goethe’sche Lili-Lyrik mit seiner Friederike-Lyrik zu unbefangener Prüfung zusammen, und man wird leicht herausfühlen, in welcher das echte Himmelsfeuer lodert. Außerdem scheint mir zur Werthung der angeblichen Leidenschaft Goethe’s für Fräulein Schönemann ein nicht unwichtiges Kriterium der Umstand darzubieten, daß zu gleicher Zeit unser Dichter mittelst Briefwechsels zu der jungen Augusta von Stolberg, einer Schwester der beiden hainbündlerischen Grafen, in ein so leidenschaftliches Freundschaftsverhältniß gerieth, daß zu dessen Bezeichnung, wie er im Januar von 1775 an die neue Freundin schrieb, „die Namen Freundin, Schwester, Geliebte, Braut, Gattin“ nicht ausreichten – ein starkes Stück von Wertherei übrigens, besonders wenn man bedenkt, daß Goethe das also angehimmelte „Gustchen“ nie mit leiblichen Augen gesehen. Was Lili angeht, so hatte sie schon bei einer der ersten Zusammenkünfte mit dem Dichter diesem das bedenkliche Geständniß gemacht, sie habe an sich „eine gewisse Gabe, anzuziehen, bemerken müssen, womit zugleich eine gewisse Eigenschaft, die Angezogenen fahren zu lassen, verbunden sei.“ Wohl, sie zog ihn an und ließ ihn fahren, und wir haben das schöne, in der Fülle des Reichthums und Behagens erzogene, verzogene, launische Kind, welches nicht wußte, weder woher das Brot komme, noch was Leid sei, stark im Verdacht, daß ihm die Laune gekommen, es müßte doch hübsch sein, von einem berühmten und noch dazu schönen Manne geliebt zu werden – eine ganz begreifliche und verzeihliche Eitelkeit bei einem jungen Mädchen, aber doch eben nur eine Eitelkeit. Eitelkeiten pflegen gegen Widerwärtigkeiten nicht standzuhalten und an Widerwärtigkeiten fehlte es nicht; die beiden Familien Goethe und Schönemann waren ja von Anfang an der Verbindung des jungen Paares entgegen und blieben es, auch nachdem sie die improvisirte Verlobung widerwillig anerkannt hatten. Herr Johann Kaspar und Frau Katharina Elisabeth hatten das ganz richtige Gefühl, eine solche „Putz- und Staatsdame“ von Schwiegertochter würde in den solid-bürgerlichen Rahmen ihres Haushalts nicht passen. Auch waren sie vollauf berechtigt, das Herabsehen der schönemann’schen Geldprozerei auf diesen ihren solid-bürgerlichen Haushalt unverschämt zu finden und darum jedes Entgegenkommen zu vermeiden. Frau Schönemann und ihre Söhne hinwiederum waren der Geldreligion zu sehr ergeben, um nicht merken zu lassen, daß die Bewerbung des Advokaten und Versemachers um ihre Tochter und Schwester eben nur eine geduldete sei und daß Lili eigentlich von Religions-, Rechts- und Anstandswegen einen Prozen heiraten müßte. Denn Geld und Geld gesellt sich gern, steht geschrieben im Evangelio Mammonis, Kap. 13, V. 25.

Das Verhältniß schleppte sich den Winter über und in den Sommer hinein der Art fort, daß der arme Bräuterich zwischen Wonne und Weh und Weh und Wonne „in schwebender Pein“ schwankte. Das Weh schlug namentlich dann vor, wann Lili’s Gefallsucht es nicht lassen konnte, auch anderen Männern gefallen zu wollen und mit ihren Talenten und Talentchen vor der Gesellschaft zu glänzen. Derartige Püppchen haben das so. Doch muß gesagt werden, daß Lili’s Koketterie eine harmlose gewesen, zum größeren Theile wohl auch verschuldet durch die Unstätheit ihres Verlobten, der heute Glut und morgen Frost war. Die ganze Geschichte nahm so von beiden Seiten mehr und mehr eine mißliche Färbung an, sie wurde zu einem Wechselfieber, so zu sagen, und die beiden Verlobten mochten sich, des ewigen gegenseitigen Anziehens und Abstoßens müde, heimlich gleichsehr nach Genesung und Befreiung sehnen. Als es einmal soweit, nahm der Dichter den Riß und Bruch auf sich, wozu sich im Mai von 1775 eine gute Gelegenheit bot.

Da waren nämlich die Hainbündler Fritz und Christian Stolberg bei Goethe eingekehrt, auf einer Schweizerreise begriffen und begleitet von ihrem Freunde Kurt von Haugwitz, welcher nachmals zum Verderben Deutschlands das unselige preußische Unstaatsmännerkleeblatt Haugwitz, Lombard und Lucchesini mitgebildet hat. Auch Maximilian Klinger war gerade in seiner Vaterstadt anwesend und viel im goethe’schen Hause. Die Stolberge standen damals im Vollsaft ihrer Kraftgeniewuth, die sich in unbändigem, mitunter geradezu verrücktem Freiheitsgeschrei austobte, welches dann später bekanntlich bei dem einen in papistisches Gegrunze, bei dem andern in pietistisches Gegreine umgeschlagen ist. Bei einem Gelage der jungen Männer setzte die Frau Rath in ihrer humoristisch-gescheiden Weise die beiden gräflichen Tyrannenfresser tüchtig zurecht und bei dieser Gelegenheit erhielt sie den Namen Aja. Ihr Sohn scheint es darauf angelegt zu haben, die Entfremdung zwischen ihm und Lili durch häufige Entfernungen von der Stadt wachsen zu machen. Er schwärmte mit seinen Besuchern in der Umgegend herum und derweil gaben sich daheim beiderseitige Freunde die mehr oder weniger redliche Mühe, das unersprießliche Verhältniß zwischen dem Doctor Goethe und dem Fräulein Schönemann zu lockern und zu lösen. Daß sich der Doctor plötzlich entschloß – von seinem Vater übrigens lebhaft dazu aufgemuntert – die Geniereise der Stolberge nach der Schweiz mitzumachen, schlug dem Fasse vollends den Boden aus. Verzeihung für ein so küfermäßiges Bild, das auch wirklich verzeihlich sein dürfte, insofern man ja etwa das in Rede stehende Verhältniß mit dem Danaidenfaß vergleichen könnte.

Ohne förmlichen Abschied von Lili genommen zu haben, brach unser Dichter mit seinen Reisegefährten auf, zunächst nach Darmstadt, allwo Freund Merck, wie Goethe berichtet, über die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 517. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_517.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)